Ich schätzte mich glücklich, als sich Horst und Heidrun Baranski in einem Gespräch während meines Besuches im Herbst 2014 in Maxhütte über ihre vielen Reisen nach Südafrika spontan bereit erklärten, mich in die langsam beginnenden Planungen der kommenden Reise zu integrieren, die sie mit zwei befreundeten Ehepaaren für März/April 2016, also in den Osterferien, ins Auge gefasst hatten. Großzügig eingefädelt wurde der Prozess des gegenseitigen Kennenlernens bei Begegnungen an Silvesterabenden, die harmonisch, gesprächsoffen und sehr humorvoll ins jeweils neue Jahr hinüber drifteten. Die Akzeptanz schien mir auf allen Seiten gegeben zu sein. Nichts stand also den kommenden Ereignissen in naher Zukunft im Wege.
Die letzte gesellige Vorbereitung darauf nahm wieder Heidrun in die Hand und lud am Samstag, 27. Februar 2016, zu einem „Royal High Tea“ als Einstimmung bei einem schmucken und opulent gedeckten Tisch zu mehreren Gängen südafrikanischer köstlicher Spezialitäten ein. Natürlich und gleich zu Beginn und dann je nach Gelegenheit, größte Anerkennung für Heidruns perfekt ausgeklügelte Organisation der gesamten Reise. Sie liebt dieses überwältigende Land, und das bringt sie uns Mitreisenden stets nahe. Folglich passte alles zusammen, vom ersten bis zum letzten Tag. So bekamen beide Ehepaare und ich an diesem Abend ein Handout überreicht, eine geschmückte Mappe mit allen geplanten Routen und Quartieren, inklusive der Angaben touristischer Alternativen und vielen zusätzlichen Informationen über Natur, Kultur und Geschichte des Landes. Dazu kamen die Buchungen von Hin- und Rückflug, aller Safaris und des Leihwagens, was bei der nicht einfachen Zahl von sieben Reisenden eine zusätzliche Herausforderung war. Während des Aufenthaltes in Südafrika gab sie uns fortlaufend Informationen über das Land, die Gebräuche und Notizen zu den einzelnen Unterkünften. Hin und wieder schaltete sich auch ihr Ehemann Horst mit seinem großen Wissen als ebenfalls versierter Kenner Südafrikas ein. Gewissermaßen die Krönung nach der Reise und längst wieder zuhause war Heidruns Gestaltung zweier eindrucksvoller Fotobücher, glänzend komponiert, kokett getextet und geschöpft aus ihrem eigenen Bilderbestand und jenem von Peter Lehmann. Die beiden Bände liegen während meiner Niederschrift als bildhafte Gedächtnisstütze stets neben mir.
Die Anreise am Freitag, 18. März, begann zügig mit dem zuverlässigen „Airport-Liner“; nur 90 Minuten brauchte er von Maxhütte zum Flughafen München, Terminal 2. Das Einchecken bzw. die Gepäckaufgabe empfand ich als gespenstisch ruhig, obwohl an diesem Wochen-ende 180.000 Fluggäste unterwegs gewesen sein sollen. Es gibt fast kein Personal mehr, weil das meiste zuvor über den eigenen PC abgewickelt wird. Eine Durchsage war ein bisschen ernüchternd, aber nicht beunruhigend: Die Lufthansa-Maschine musste ausgetauscht werden, weil eine Kollisionsanzeige nicht funktionierte, also starteten wir statt um 19.05 h dann um 21 h. Für mich war das wieder einmal nach langer Zeit ein Nachtflug über 9600 km, heute eben nach Cape Town. Die Flughöhe schwankte zwischen 9.800 und 12.800 Meter. Nach elfeinhalb Stunden schwebten wir ein, und ich bemerkte ein beeindruckendes Naturschauspiel: Die Wolkendecke türmte sich mächtig auf und schien mir einer arktischen Winterlandschaft ähnlich. Wo sie kurz aufriss, waren braune nasse Flecken wie Pfützen im Tauwetter zu sehen – mein erstes Bild von Südafrika!
Der Samstag, 19. März, war sonnig bei leichtem Wind, so dass wir nach ausgesprochen freundlichem Empfang in der Unterkunft 2inn1 mit einer Gondel zum Tafelberg hoch schwebten. Trotz riesenschlangenlanger Wartezeiten war dieser Ausflug ein echtes Erlebnis mit weitem Rundumblick, 1087 Meter über dem Meer. Das steinige Plateau ist erstaunlich großflächig, aber nicht schwierig abzulaufen. Klippschliefer zeigten sich ungeniert und sonnten sich in der südafrikanischen Spätsommersonne. „Wenig Wolken und Wind bedeuten Tafelbergwetter!“ verheißt Heidruns Kommentar im Fotobuch.
Jedenfalls der Rundumblick, nach einer scheinbar waghalsigen Fahrt mit der Gondel über Abgründe hinweg, hinterließ einen gewaltigen Eindruck. Sieht man doch hinunter auf die Tafelbucht, auf Camps Bay, hinüber zum Lion’s Head, weit hinaus auf Robben Island und Devil’s Peak, was mir die Bilderpracht des Fotoalbums erneut vor Augen rückt. Vor allem der Blick hinunter auf Camp’s Bay hat es mir angetan wegen des Kontrastes von blauweiß schäumendem Atlantik, dem gedehnten weißen Sandstrand und dem Ort selbst, der sich weit und schillernd begrünt um die Bucht herum gruppiert. Für einen Ausflug nach Robben Island, auf der Nelson Mandela 18 seiner insgesamt 27 Jahre gefangen gehalten wurde, während dieses Gefängnis heute ein Museum ist, war die Zeit zu knapp, und er war auch an diesem Tag gar nicht eingeplant.
Der Abend verlief fröhlich gesellig und tief entspannt, das Essen in Camps Bay, am Fuß der 12 Apostel, mit frischem Fisch schmeckte vorzüglich.
Bild 1 = Indischer Ozean ( Gardenroute )
Bild 2 + 3 = Swartbergpass zwischen Kleiner und Großer Karoo
Bild 4 = Blick vom Tafelberg auf Kapstadt mit Robben Island, Fußballstadion von 2010, Lion`s Head und Signal Hill
Sonntag, 20. März, kalendarischer Herbstbeginn auf der Südhalbkugel, Frühlingsanfang auf der Nordhalbkugel. Es kam mir schon seltsam vor: Vom beginnenden Frühjahr dort fliegt man dann in den Frühherbst hier. Allerdings folgen die Landschaften und klimatischen Bedingungen der Kap-Region nicht dem vertrauten und hin und wieder beklagten Rhythmus unserer Jahreszeiten-Abfolge. Wetter und Klima bleiben vergleichsweise mild, trotz des rau kalten Atlantik mit seinen bereits spürbaren Brisen.
Der Tag begann, und wie die nächsten Morgen zuverlässig bestätigten, mit einem großzügig präsentierten kräftigen Frühstück und Eier-Spezialitäten in Hülle und Fülle, wohl ein Erbe aus englischer Kolonialzeit. Die in guter Stimmung geführten Gespräche waren doch des Lobes voll, wie gut die weißen Besitzer mit ihrem schwarzen Personal umgingen. Der Tag selbst war ausgefüllt mit einer geführten Tour in englischer Sprache, deren Sinn mir in der letzten Reihe des Vans rein akustisch fast vollständig verborgen blieb. Die Reise führte hinab zum Cape of Good Hope mit vielen Seitenblicken in eine spärlich bewachsene felsige Vegetation. Nur ein in aller Ruhe die Straße überquerender Pavian und der befremdlich strenge Geruch beim Besuch einer Zwergpinguin-Kolonie am Boulders Beach bereicherten etwas Fauna und Flora dieser Region. Ein kurzer Regenschauer auf der Höhe des Kaps unterbrach das sonst leicht windig angenehme Wetter. Der Blick über die Felsen hinunter zum tosenden Atlantik am südlichsten Punkt des Kontinents ist einfach grandios. Wegweiser geben Richtung und Zahl der Meilen in einige zentrale Städte der Welt an, so dass ich einen Moment lang doch sehr nachdenklich wurde, weil ich ja genau drei Monate später hoch in Spitzbergen im Nordpolarmeer sein will, was ich ganz versonnen Horst Hubmann, der neben mir stand, mitteilte.
Auf eines hatte ich mich von Beginn an sehr schnell einzustellen. Die Gruppe beherbergte leidenschaftliche Fotografen, während ich dieser Kunst vor drei Jahrzehnten bereits, also längst abgeschworen hatte. Jedenfalls wurde ich unmissverständlich angehalten, lebendiger Teil verschiedenster Gruppierungen zu werden. Mich zwang das freiwillig zu gänzlich ungewohnter Akrobatik und zusätzlicher Beweglichkeit, den mir jeweils zugewiesenen Platz rechtzeitig einzunehmen: Zweier-Gruppen, Dreier-Gruppen, mal zu viert, mal zu fünft, dann wieder jeder für sich, jetzt die Frauen zusammen, jetzt die Männer, urplötzlich die Ehepaare in trauter Zweisamkeit, bis die beiden Fotoprofis selbst ins Bild gerückt wurden. Mal geduckt, mal gestanden, mal vorne, mal hinten, dann wieder mittig oder rasch nach außen gerückt, die Möglichkeiten schienen mir unbegrenzt zu sein, obwohl sie rein mathematisch an natürliche Grenzen stoßen. Die Meisterfotografen achteten auch stets sehr darauf, dass Landschaften, Städte und Häuser oder erst der Atlantik, dann der Indische Ozean einen jeweils faszinierend schönen Hintergrund bildeten, aber nie so, dass er den Vordergrund verschluckte. Jedenfalls, multipliziert und addiert man alle Möglichkeiten, die nach meinem subjektiven Empfinden samt und sonders ausgeschöpft wurden, ergibt sich: 7x7 + 6x6 + 5x5 + 4x4 + 3x3 + 2x2 + 1x1 = 49+36+25+16+9+4+1 = 140 Positionen; Wiederholungen und Doppelungen sind selbstverständlich in diese Arithmetik nicht eingeschlossen, verzerrten aber nie das Grundmuster. Das waren für mich allein unter sportlichen Gesichtspunkten schon sehr bewegende Momente. Heidruns Fotobücher legen Zeugnis ab von nahezu allen Varianten und rechtfertigen anschaulich meine hier angestellten Überlegungen.
Während der Rückreise vom Kap nach Cape Town erzählte der Reiseleiter, der gleichzeitig der Wagenlenker war, lebhaft und war sehr um eine deutliche Aussprache bemüht. Aus besagtem Grund achtete ich dann doch wieder mehr auf Landschaft, Tiere und Menschen.
Besonders bunt und schön anzusehen, wenn auch nur, den Umständen entsprechend vom Wagen aus, war am Bo-Kaap das Stadtviertel der Kap-Malaien in Cape Town. Eine Farbenpracht bemalter Häuser tat sich auf, fröhlich kunterbunt, aber alles in allem stimmig für das gesamte Viertel, so schien es mir wenigstens.
Den Abend beschloss ein vorzügliches Menü in neune Gängen eines gehobenen Restaurants in bester, humorvoll entspannter Atmosphäre. Ein Gang bestand im Servieren einer schwarzen aufklappbaren geheimnisvollen Kugel mit einer feinen Köstlichkeit im Innern. Peter, der neben mir saß, bemerkte trocken, da fehle nur noch die Zündschnur. Der schöne Abend dauerte dann doch bis 23.30 h. Weil wir mit dem schwarzen Taxifahrer ca. 22.00 Uhr vereinbart hatten, der diese Zeit vor dem Restaurant wartete, zeigte er sich entsprechend verstimmt und blieb während der Rückfahrt verständlicherweise etwas wortkarg. Am hochgemauert abgesicherten 2in1 angekommen, schoss ein schwarzer Wachmann auf uns zu, um zu prüfen, ob wir auch hierher gehörten, und ließ uns nach kurzer Kontrolle passieren. Ich erfuhr, dass private Wachdienste rund um den Besitz Wohlhabender in diesem Land die Regel seien, weil sich dieser Staat und sein Präsident, Jacob Zuma, für öffentliche Ordnungsaufgaben, wie jene der Polizei, gar nicht zuständig fühlen.
Bild 1 = Bunte Häuser im malaiischen Bo-Kaap-Viertel in Kapstadt
Bild 2 = Blick auf die Twelve Apostles mit Camps Bay
Bild 3 = Tüpfelhyäne
ist „Menschenrechtstag“ und ein offizieller Feiertag in Südafrika! Langes Schlafen war allgemein gewünscht. Dennoch früh aufgestanden, zunächst, weil mich strenge Laute hin zur angelehnten Balkontür zogen. Wie gesagt: My English is not… but: so viel verstand ich doch, dass ein schwarzer Bediensteter scharf zurechtgewiesen wurde, weil der Pool offenbar nicht gänzlich den Reinheitsgeboten seiner weißen Besitzer entsprach. Ich zog dann im Pool meine Bahnen bei für mich angenehmen Wassertemperaturen von geschätzten 18°und herrlichem Blick auf den Berg. Erste frühherbstliche Brisen zogen auf, wie sie uns auch aus den mitteleuropäischen Breiten vertraut sind.
Der Tag heute ist ausgefüllt mit einer ausgiebigen Stadtrundfahrt in Cape Town, dem sich der Besuch des Kirstenbosch Nationalparks auf der Rückseite des Tafelbergs anschloss, mit einem ausgiebigen Spaziergang bei angenehmen Temperaturen durch Kapstadts Botanischen Garten, der zu den schönsten und größten der Welt gehören soll, und den die UNESCO in ihr Weltnaturerbe aufnahm. Für die Menschen am Kap eine gerne wahrgenommene Schönheit, für mich ein einzigartig bewegtes Naturpanorama, weil sich zur gleichen Zeit unter strahlend blauem Himmel oben auf den Tafelberg eine weißgraue Wolkendecke wie ein exakt abgepasstes Tischtuch legte. Eine üppige Flora, allen voran die Proteen in ihrem Gestalt- und Farbenreichtum, wie die pflanzen- und gartenkundigen Damen unserer kleinen Gruppe wussten, zeigt sich in verschwenderischer Pracht, dazu ein Grün, das sich in allen Abstufungen auszustellen scheint. Nimmt man noch die über Wiesenflächen wandernden Perlhühner hinzu und die nachgebildeten Bronze-Figuren urweltzeitlicher Fauna in Originalgröße, deren Skelette hier gefunden und ausgegraben wurden, stellen sich wie von selbst Assoziationen ein, sich in einem irdischen Garten Eden zu bewegen, dessen Urbild allerdings niemand außerhalb des Alten Testaments zu kennen scheint. Nicht entfernt so weit wie die Urweltzeitlichen reicht die Zeit der Gründung der Anlage selbst zurück. Jan van Riebeeck, einst der Befehlshaber der niederländischen Ostindien-Kompanie, stellte 1652 die Wälder oberhalb des Gartens unter Schutz, um die Versorgung der alten Kolonie mit Bau- und Schiffsholz zu sichern. Noch im 17. Jahrhundert verwaltete das Areal ein J.F. Kirsten; von ihm rührt der Name des Gartens her.
Die Heimfahrt mit dem roten open top bus zurück nach Cape Town gibt noch einmal viele Blicke frei auf die Townships von Hout Bay und Clifton, auf das längst verwaiste Stadion der Fußball-WM von 2010 und die weiten Atlantikstrände von Llandudno. Cape Town ist ein einzigartig pulsierender urbaner Organismus, wie jede Millionenstadt, augenfällig sichtbar in der Waterfront, der Einkaufs-, Kultur-, Amüsier- und Hafenmeile. Nach dem offiziellen Ende der Apartheid machte die Stadt Weltkarriere als Touristenziel. Die Besucherzahlen steigen seit Jahren ins Unermessliche; die größten Kreuzfahrtschiffe aller Weltmeere werfen hier ihre Anker. Jakob Strobel y Serra bringt es auf den Punkt: „Denn dank seiner Lebenslust und Lebenskunst kann man zwischen dem Kruger-Nationalpark und der Karoo-Halbwüste nicht nur wilde Tiere bestaunen, sondern auch sämtliche Freuden des zivilisatorischen Genusses auskosten, allen voran des Essens, des zuverlässigsten Indikators für die Kultiviertheit und den Gemütszustand einer Stadt. Am Kap könnte es nicht besser sein, denn inzwischen liegen neun der zehn besten Restaurants des Landes in Sichtweite des Tafelbergs.“
Mein besonderes Augenmerk richtete ich auf die Bronze-Skulpturen am Nobel Square der vier Friedensnobelpreisträger Südafrikas: Albert John Luthuli, Desmond Tutu, Frederic Willem de Klerk und natürlich Nelson Mandela. Und hier scheint Südafrika schon so zu sein, wie es sich Mandela erträumt haben mag: „ein reiches Land, das sich gefunden hat und optimistisch in die Zukunft schaut, in dem die schwarze und die weiße Mittelschicht am selben Tisch sitzen und im besten
Bürgersinn miteinander diskutieren, zum bestellten Hummer aus der False Bay einen Sauvignon Blanc oder Chardonnay trinken.“ (y Serra). Aber so ist es nicht. Darüber wird im zweiten Teil meines kleinen Berichts noch zu reden sein. Den ereignisreichen Tag beschloss ein feines Fischessen in Camps Bay am Fuß der 12 Apostel.
1 = Klippen am Atlantik bei Gansbaai, Westkap
2 = Kapstadt, Waterfront mit Blick auf Tafelberg und Devil`s Peak
Horst Baranski, Horst Hubmann und Peter Lehmann machen sich nach dem erneut üppigen Frühstück gemeinsam auf den Weg, um den vorbestellten Mietwagen abzuholen. Dann, nach einer herzlichen Verabschiedung von den gastfreundlichen Menschen des 2inn1, ging es ab in die Winelands nach Paarl, in das Anwesen Cascade Manor der Deutsch-Namibier Maika & Volker Goetze, mit Zwischenaufenthalt zum Lunch im Delaire Graff Wine Estate in der Provinz. Heidrun klärte uns darüber auf, dass dieses Weingut des britischen Diamanten-händlers Laurence Graff das exklusivste der gesamten Kap-Region sei, was die Bilder und Skulpturen im Innen- und Außenbereich eindrucksvoll zu bestätigen scheinen. Jedenfalls ist Laurence Graff nicht nur Diamanten-Händler, sondern auch Diamanten-Milliardär. Deshalb konnte er sich für sein privates Gesamtkunstwerk den schönsten Flecken in einer der besten Gegenden des südlichen Afrika aussuchen: einen exponierten Hang mit Logenlage im Herzen des größten und ältesten Weinbaugebiets Südafrikas. Ich überlasse hier gerne dem Kenner Jakob Strobel y Serra noch einmal das Wort: „Sechshundertfünfzig Kunstwerke vor allem südafrikanischer Schwergewichte wie William Kentridge, Deborah Bell oder Anton Smit hat Laurence Graff für sein Weingut zusammengetragen und als Krönung des Ganzen das ‚Chinese Girl‘ von Vladimir Tretchikoff ersteigert, das berühmteste Gemälde der südafrikanischen Kunstgeschichte, die Mona Lisa vom Kap. Sie steht ein wenig achtlos neben der Rezeption von Delaire Graff, das gleichermaßen Weingut, Luxus-Lodge, Architekturikone und Kunstmuseum mit angeschlossenen Gourmetrestaurants, Wellness-Labyrinthen und Diamantgeschäften sein will. Alles hier ist kostbar und spektakulär, die Glasfronten, die den Blick auf Fass- und Flaschenkeller freigeben, die Innenwände, die aus Hunderten von Schieferschichten aufeinander getürmt sind, die Kunstharzböden aus fixierten Pfirsich-Kernen, die gelben Diamanten in den Juwelierauslagen für 700.000 Dollar das Stück.“
Unbezahlbar für fast jeden. Doch genauso unbezahlbar ist die Schönheit der Landschaft um uns herum. Die Gespräche drehen sich deshalb berechtigterweise wesentlich um die Qualität des Essens, der süffigen südafrikanischen Weine und eben dem flutenden landschaftlichen Reiz.
Heidruns sympathisch provozierende Bemerkung, dass gutes, gepflegtes Essen die Erotik des Alters sei, ließ ich unkommentiert stehen. Die gleiche Bemerkung machte, wohl unabhängig davon, ihr Ehemann Horst abends in feucht-fröhlicher Runde, mit wohlwollend zustimmenden Bemerkungen aller Ehepartner, wobei ich selbst keinen Grund hatte, solidarisch in diesen Choral gesättigter Spätzufriedenheit einzufallen.
Wir erreichten unsere Unterkunft für die nächsten drei Tage, Cascade Manor in Paarl, ein traumhaft schönes Anwesen mit gepflegten Grünflächen, einem großzügig angelegten Pool, hochgewachsenen Pinien und ausladenden Palmen samt erneut erstklassigen Unterkünften für die Gäste. Ein kurzer, gemeinsam unternommener Spaziergang innerhalb des Anwesens führte uns zu einem kleinen hauseigenen Wasserfall, der dem Anwesen seinen Namen gab.
Ein Ruhe- und Entspannungstag war heute vorgesehen, lediglich unterbrochen von einem kleinen, aber ergebnisreichen Stadt- und Einkaufsbummel. Gerne schloss ich mich an, kaufte selbst einige wenige Erinnerungsstücke für mein feminines Umfeld daheim, war aber immer noch unsicher, ob ich überhaupt schon in diesem Land wirklich angekommen bin. Als die Frauen, mit ersten Handtaschen geschmückt, wieder ins Blickfeld gerieten, sagte ich eher beiläufig zu Eva, ich wisse bis heute nicht genau, wenn ich mich an frühere Urlaubstage in Begleitung meiner verstorbenen Frau zurück erinnere, ob es ein Vor- oder Nachteil sei, wenn ich jetzt auf Reisen nicht mehr in jedes Schuh- und Ledertaschen-Geschäft hinein müsse. Evas feines Lächeln trug zwar nicht zur direkten Klärung meiner Bemerkung bei, verriet aber dennoch ein tiefes Verständnis für diesen Vorgang.
Den kleinen Ausflug mit Abendspaziergang in den Paarl Rocks mit Blick auf die Stadt und das Taal Monument sehe ich nur in Heidruns Fotoalbum, wobei ich mich nicht mehr daran erinnere, auch keine Notiz in meinen Aufzeichnungen finde, warum ich diesen Ausflug nicht mitgemacht hatte. Die geschossenen Bilder davon im Sonnenuntergang sind nämlich derart großartig, dass ich bei ihrem Anblick ob des Versäumten heute noch in ein melancholisches Grübeln verfalle.
Einen weiteren Höhepunkt erlebten wir aber in der Unterkunft während des Abendessens. Delphine, eine junge Frau und Bedienstete des Hauses, mit beachtlicher schauspielerischer Begabung, erzählte uns, dass vor zwei Jahren Prinz Charles und Kronprinz William aus Großbritannien zusammen mit dem König von Swaziland hier inkognito eingekehrt seien und sich gut gelaunt unterhielten. Und Delphine mischte fröhlich mit, ohne zu ahnen, wer da vor ihr saß. Als sie es bemerkte, erschrak sie zutiefst, während die Männer sie umgehend zu beruhigen wussten mit dem glaubhaften Trost, sie seien froh, abseits protokollarischer Strenge, einmal ungezwungen frei reden zu können.
Donnerstag, 24. März. Der halbe Tag gehörte einem Besuch der Stadt Stellenbosch und Simone, die uns von 10 bis 14 h führte, stets angenehm unterbrochen von der gesegneten Einfuhr heimischer kulinarischer Genüsse. Heidruns Fotoband legt über diese reizenden Örtlichkeiten ein farbenprächtiges Bekenntnis ab. Stellenbosch ist der zweitälteste von Europäern im 17. Jahrhundert gegründete Ort Südafrikas, nach Kapstadt. Die mächtigen, einst von niederländischen Einwanderern gepflanzten Eichen spenden auf unserer kleinen Besichtigungstour in den Straßen der Stadt willkommenen Schatten. Ein Halt Simones betraf drei Häuser mit unterschiedlichen Baustilen: englisch, deutsch-österreichisch und niederländisch, letzteres mit einem Reetdach gedeckt, das unter sorgfältiger bautechnischer Beobachtung denn doch fünfzig Jahre halten soll. Die drei Häuser präsentieren auf einen Blick die verschiedenen europäischen Einflüsse und Kulturen. Viel leisteten hier Niederländer und Hugenotten. Sie begannen vor 400 Jahren mit dem Weinanbau, zuerst rund um den Tafelberg, schufen dann so entzückende Städtchen im kapholländischen Stil wie eben Stellenbosch und Franschhoek (Franzoseneck). Ich könnte es nicht besser sagen, deshalb gebe ich hier der liebevollen Beschreibung Jakob Strobels y Serra noch einmal das Wort: In beiden Städten ducken sich „bis heute die Kolonialhäuschen im blütenweißen Gewand mit Spitzgiebeln, Glockentürmen und Sprossenfenstern unter monumentalen Eichen. So pittoresk, so makellos sieht das alles aus, als hätten die Architekten damals Delfter Porzellanteller als Vorlage in der Hand gehalten, um ihre steinernen Seufzer der Sehnsucht nach der fernen Heimat zu schaffen, die längst die Sehnsüchte des Fernwehs erhören.“
Sehr sehenswert war auch das Altdorf-Museum, eine Freilicht-Anlage mit einer Fläche von etwa 5000 qm; es zeigt getreu nachgebaute Häuser und Räumlichkeiten der Buren aus dem 17. und 18. Jahrhundert, wie das Schreuderhuis von 1709, das Blettermanhuis von 1789 oder das Grosvenor House von 1803. Vorbei an der strahlend weißen Moederkerk, der ältesten Kirche der Stadt, beeindruckte mich an einem Platz die ins Pflaster eingelassene Kupferplatte mit den berühmten eingravierten Worten Nelson Mandelas:
NEVER, NEVER AND NEVER AGAIN SHALL IT BE THAT THIS BEAUTIFUL LAND WILL AGAIN EXPERIENCE THE OPPRESSION OF ONE BY ANOTHER.
Ich sitze abends gegen 19 Uhr wieder im Anwesen, ruhe mich aus und entspanne mich, den Pinienhain und Swimmingpool im Blick, inmitten mächtig anschwellender Frühherbststürme und sich flüchtender kleiner, von der Abendsonne rötlich gefärbter Wolkengruppen.
Unser Ziel heute ist das Bosch Luys Kloof Privaat Natuur Reservaat in der Kleinen Karoo. Wir fahren die Route 62 entlang mit einem dem Hörensagen nach originellen Halt an Ronnies Sex Shop. Originell deshalb, weil der Name täglich viele Reisende anlockt. „Sex sells“ heißt einfach: Der Absatz von Getränken schnellt wegen des Namens merklich in die Höhe. Heidrun wusste, dass Ronnies Freunde sich diesen Gag ausgedacht hatten. Natürlich bestens frequentiert, basiert er allein auf dieser erwartungsvollen Namensgebung. Die Kalauer, die einem hier während des kurzen Halts um die Ohren fliegen, braucht man gewiss nicht nachzuerzählen.
Wir verlassen die Route 62 hinter Ladismith und biegen ab in die atemberaubend schöne Schlucht von Seweweeksport, hinein in die Swartberge zwischen der Kleinen und Großen Karoo. Die Bilder von Heidruns Fotoalbum vergegenwärtigen augenblicklich den spröden Charme dieser kargen, steinig trockenen Wüstenlandschaft. Solange man sich auf der Route 62 bewegt, bleibt die Fahrt angenehm. Doch hier geht es 70 Minuten lang und 32 km weit auf einer trotz allem immer noch gut befahrbaren Schotterpiste über Stock und Stein in die Berge hinauf und wieder hinunter, zwischen bizarren Felsformationen hindurch, abgelöst durch freie Flächen, fortgesetzt von den nächsten Bergmassiven ins Bosch luys Kloof. Peter, der Fahrer, schlug sich wacker und machte seine Sache richtig gut; auch der Van trotzte allen Widrigkeiten. Ich entwickelte keinerlei Fantasie und schon gar keine konkrete Vorstellung davon, was bevorstehen könnte, war aber dann doch überrascht, dass sich am Ende dieser Fahrt eine kleine Zivilisation auftat. Als sich eine Schlucht schließlich öffnete, wurden hellbraune Dächer eines Camps sichtbar.
Hier fand ein Ehepaar nach langer Suche eines für sie geeigneten Platzes in Südafrika endlich seine Bleibe auf Dauer in der Einsamkeit der steinigen Halbwüste, landeinwärts, abseits der Route 62. Ich wusste nicht, was ich mehr bewundern sollte, die herbe Schönheit der Landschaft oder das kühne Ehepaar selbst, das sein Leben hier seit zwanzig Jahren einzurichten verstand und sich so sein Paradies auf Erden schuf. Nicht, dass es in diesem abgeschiedenen Naturreservat einsam wäre, schon deshalb nicht, weil sich ständig Gäste aus aller Welt ein Stelldichein geben. Darüber hinaus wird dieses beschauliche Naturreservat stets von vielen Interessierten aufgesucht, vor allem auch von Geologen, die hier ein reiches Betätigungsfeld haben, so dass das naturverbundene Ehepaar in einer zwar selbstbestimmt unternehmerischen, aber letztlich wohl dienenden Funktion sein Leben zubringt. Meiner flüchtigen, sehr subjektiven Beobachtung nach, gelangen die Gespräche mit Ankommenden, Verweilenden und Abschied Nehmenden eher selten über einen freundlich gelassenen Plauderton hinaus.
Wir lauschten während unseres Mittagessens einem gehörigen Platzregen, der noch einmal gegen 22 Uhr einsetzte. Beide Male waren wir bereits im Trockenen.
Ich bin sehr gespannt, was der Ostersamstag bringen wird, an dem nachmittags um 16 Uhr eine Raver-Tour angesagt ist. Doch zuvor erholen wir uns während eines Spaziergangs in der Natur der Swartberge. Der zweieinhalbstündige Ausflug mit Bruce, dem Fahrer, hielt alles, was man sich davon versprach. Ich beschränke mich auf Stichworte: Während der Fahrt über Stock und Stein machte Bruce uns aufmerksam auf Luchs, Kudus und Paviane, englisch „Baboons“. Alles endete mit dem „Sundowner“, jener landesweiten Abschiedskultur vom Tage, im stimmungsvollen Abendlicht der sich weg drehenden Sonne, mit einem kleinen Imbiss und süffig gemixten Getränken.
Erst sehr spät, nach dem Ende der Reise und dem Nachdenken darüber, stellten sich bei mir Fragen ein, angeregt durch meine lesende Umschau. War diese Landschaft schon immer so unfruchtbar? Hat sie vielleicht einmal ganz anders ausgesehen? Woher kamen diese Kargheit, diese rostbraunen nackten Felsengebilde, diese malerisch bizarren Ungetüme, aufgelockert lediglich durch ein sprödes hartnäckiges Grün, das sich seine eigenen Wege bahnt, wo immer es zwischen den schwarzen Steinen möglich ist? Ich stieß während meiner Suche auf einen zuverlässigen Chronisten, der mir bereits bekannt war, mit seinem messerscharfen Verstand und subtil exakten Sinn für poetische Bauformen. J.M. Coetzee veröffentlichte im Jahr 2000 einen schmalen Band unter dem Titel: Ein Haus in Spanien. Drei Geschichten, der eben auf Deutsch erschienen ist, wobei die zweite Geschichte den Titel Nietverloren trägt und in der Karoo angesiedelt ist. Ich gebe sofort Coetzees Erzähler das Wort: „Diese Karoo, die heute als Wüste betrachtet wird, in der Herden von Huftieren mühsam überleben, war vor nicht allzu langer Zeit eine Region, wo hoffnungsvolle Farmer Samen, die sie aus Europa oder der Neuen Welt mitgebracht hatten, in den dünnen, steinigen Boden säten, Wasser aus dem artesischen Becken pumpten, um sie am Leben zu erhalten, und vom Ertrag ihrer Felder lebten: eine Region verstreut siedelnder Kleinbauern und ihrer Arbeiter, unabhängig, beinah außerhalb der Geldwirtschaft.
Was verursachte das Ende? Ohne Zweifel entmutigte die Große Dürre viele und vertrieb sie von ihrem Land. Und ohne Zweifel mussten sie immer tiefer nach Wasser bohren, als das artesische Becken im Laufe der Jahre erschöpft wurde. Und natürlich, wer würde sich damit abrackern wollen, Weizen anzubauen und Mehl zu mahlen und Brot zu backen, wenn man nur in ein Auto steigen und eine Stunde fahren musste, um einen Laden zu finden, darin Regelfach um Regelfach mit fertig gebackenem Brot, ganz zu schweigen von pasteurisierter Milch und Tiefkühlfleisch und -gemüse? Es gab jedoch einen größeren Zusammenhang. Was bedeutet es für das Land als Ganzes und für die Vorstellung, die das Land von sich hatte, dass riesige Gebiete davon in die Vorgeschichte zurückfallen sollten? War es im größeren Zusammenhang wirklich besser, dass Familien, die früher durch harte körperliche Arbeit auf dem Land lebten, jetzt in den Wind gepeitschten Townships von Kapstadt dahinvegetieren sollten? Konnte man sich nicht eine andere Geschichte und eine andere gesellschaftliche Ordnung vorstellen, in der man die Karoo wieder urbar machte, ihre verstreuten Söhne und Töchter wiederversammelte, die Erde erneut bearbeitete?“ (Coetzee, S.33 f.) Bis ins Mark sei sie von der Schönheit dieser gottverlassenen Gegend verdorben, sagt seine Hauptfigur, und meint eben jenes wüstenartige Hochplateau im Süden Südafrikas, wo Coetzees Onkel einst eine Farm mit dem klingenden Namen Voelfontein (Vogelbrunnen) besessen haben muss. Nietverloren also. Ich halte mich immer noch in dieser Erzählung auf, gerne in Begleitung der klugen Besprechung von Marie-Luise Knott. Ein älterer Mann, die Hauptfigur, „fährt mit amerikanischen Freunden durch die weite schwarze Steinlandschaft“ (Knott), während ihn dabei ein Erinnerungsbild aus der Kindheit einholt: hin zu einem rätselhaften flachen, von Steinen umgrenzten Kreis, dessen ursprüngliche Funktion er nicht ahnt. Doch die kindliche Fantasie glaubte, dies sei ein Feenkreis, ein Ort also, an dem des Nachts Feen im Lichte der Glühwürmchen tanzten. Mit dem Älterwerden des Kindes entzaubert sich ihm die Welt, der Feenkreis ist ein Dreschplatz für Getreide, und es verstand, dass es in dieser Ödnis, wo nur mehr Schafsfarmen sind, „einmal eine autarke Landwirtschaft gegeben haben muss, mit Weizen, Enten, Kühen und Beeren. Doch Dürrezeiten, der Straßenbau und der Vormarsch der Monokultur hatten dieser Wirklichkeit lange vor seiner Kindheit ein Ende bereitet.“ (Knott). Obwohl er jetzt mit seinen Freunden nach so vielen Jahren wieder durch diese Gegend fährt, will er nicht dorthin zurück, wegen seiner Erinnerungen und dem bitteren Gefühl des Verlustes. Die Gruppe kehrt zum Lunch auf einer Nostalgie-Farm ein, die sich ‚Nietverloren‘ nennt, und sich als Konserve der guten alten Zeit inszeniert: „Schafe, Wolle, Spinnerei – ein Landgut zum Anfassen. (…) Auf der Farm würden heute statt Weizen Menschen geerntet“, liest man, Touristen und Ursprünglichkeit kommen als künstliche Frugalität daher und das abschließende Urteil ist eindeutig: ‚Nietverloren‘ ist nichts als ein Themenpark, ein Mittagsstopp für Globetrotter sozusagen.
Selbst die Schafe werden von ihren Besitzern entsorgt, fährt die Hauptfigur fort „und ihre Farmen mit Wild bestückt – Antilopen, Zebras – und Jäger aus Übersee eingeladen, aus Deutschland und den USA. Tausend Rand für eine Elenantilope, zweitausend für einen Kudu. Du schießt das Tier, sie montieren die Hörner für dich, du nimmst sie im Flugzeug mit nach Hause. Trophäen. Das Ganze nennt sich Erlebnis-Safari, oder manchmal einfach Erlebnis Afrika‘“. (Coetzee, S.38) Und der Erzähler ergänzt, mit der Hauptfigur hier verschmelzend, die Geschichte Nietverloren bilanzierend: „Ein leichtes Bedauern hängt über dem ganzen Land, wie eine Wolke, wie Nebel. Aber daran kann man nichts ändern, jedenfalls fällt ihm nichts ein.“ (Coetzee, S.39).
Dieser kleine unsterbliche Text scheint mir unerbittlich ein Grundübel dieses Landes zu diagnostizieren: nüchtern, hart, ohne jegliche Sentimentalität, nicht resignativ, aber doch melancholisch wegen des unwiederbringlichen Verlustes von Herkunft, Originalität und Identität seiner ursprünglich hier Beheimateten.
Nach dieser kurzen arabesken Abschweifung kehre ich wieder zurück in die Gegenwart meines Berichtes. Nach bestem Frühstück und freundlich herzlicher Verabschiedung bahnte sich unser robuster Van wieder seinen Weg hinaus und zurück auf die Route 62. Für mich, der ich aus guten Gründen vom Wagenlenken gänzlich freigestellt blieb und immer in der letzten Reihe saß, stets merklich aufgehübscht von zwei Damen neben mir, nahm sich das Fotografieren aus dem Innern des Vans bei holprig zügiger Weiterfahrt wieder hinaus auf die Route 62 aus wie eine eifrige, freilich auch liebenswerte Trophäenjagd aufmerksamer Foto-Ästheten nach eindrucksvollen Motiven. Geschwind flogen zwei Köpfe eine Reihe vor mir, blond gelockt und kurzgeschnitten dunkelhaarig, von Fenster zu Fenster, um hier noch möglichst viel von den Schönheiten der Swartberge im ersten Glanz der Morgensonne auf Bild zu bannen.
Noch am gleichen Tag, dem Ostersonntag, machten wir auf der Route 62 Halt bei Oudtshoorn, um die berühmten Cango Caves zu besuchen. Sie gehören zu den eindrucks-vollsten und ausgedehntesten Tropfsteinhöhlensystemen der Welt, mit für ein solch tiefgründiges Geflecht erstaunlich feuchtmilden Temperaturen, worauf uns rechtzeitig Heidrun und Horst hinwiesen. Die junge schwarze Führerin mit recht gutem Schuldeutsch zeigte uns kundig die Pfade und beschrieb die Steinformationen, die sich im Lauf der Jahrtausende herausgebildet hatten. Doch der reizende Höhepunkt der Führung war gleichzeitig eine Überraschung. Sie sang zweimal für uns: einmal die Nationalhymne ihres Landes und am Ende das Ave Maria, ganz ohne musikalische Begleitung, was sich aber ergreifend schön ausnahm und von der andächtigen Stille aller Lauschenden würdevoll eingerahmt wurde.
Impala-Antilopen und Leopard
Der Tag in Danabay war wieder ein Naturereignis. Heidrun und Horst wählten für uns mäßig Durchtrainierte einen etwas verkürzten zweistündigen Spaziergang auf felsigen Pfaden, den mächtigen blauen Indischen Ozean fest im Blick, der eine majestätische Ruhe ausstrahlt, sich aber seiner gewaltigen Kraft wohl stets bewusst zu sein scheint. Ich fühlte mich blendend aufgelegt und entwickelte eine Behändigkeit, die mich recht bald an die Spitze der kleinen Gruppe führte, wofür ich sogar das aufrichtige Lob von Johanna Hubmann am Ende der Tour erntete: „Wie eine Bergziege“ war ihr anerkennender Kommentar, den ich bescheiden abzuwehren suchte, was sie aber nicht gelten ließ. Wir beendeten den Ausflug an einem gesicherten Golfplatz, den gewesene Manager aus Europa und Deutschland ihren Gehältern und Abfindungen gemäß als Rentner fest für ihr Dasein im Griff haben, sich aber, wie man hört, um Land und Umland nicht das Geringste scheren und sich in ihrem täglich ausgelebten Wohlstand selbst genug sind.
Nachmittags im Pool der Unterkunft bei Pia Häfliger, einer gebürtigen Schweizerin, drehte ich viele kleine Runden bei vielleicht 18 bis 20° Wassertemperatur. Abends ward wie immer gut und reichlich gegessen und die Gläser zum Prosit erhoben.
Pia und ihr sensibel hellwacher Pudel Joschi sind Teil einer farbigen Lebensgeschichte. Seit Jahren verwitwet, bewirtschaftet Pia eine blitzsaubere Unterkunft. Auf meine Frage, kurz vor dem Abschied, ob sie gerne hier lebe, war die Auskunft klar: Ja, auf jeden Fall, aber man müsse stets offen sein für Unerwartetes und kleinen Widrigkeiten im Alltag trotzen, die sie natürlich aus ihrer schweizerischen Heimat so nicht kenne. Deshalb müsse sie einmal im Jahr für zwei bis drei Monate nach Mitteleuropa zurück: in die Schweiz, nach Zürich, aber auch nach Deutschland, in die Städte Hamburg und Berlin, nach Paris und London, um Leben, Komfort und europäisches Flair zu genießen, bevor sie wieder hierher zurückkehre. In ihre zweite Heimat. In dieses an Naturschönheiten so reiche Land, den Indischen Ozean im Blick, der sich Tag für Tag in neuer Gestalt und wechselnden Farben immer wieder anders präsentiere. Die Sprachen seien für sie als Schweizerin kein Problem, weil sie sich in Englisch, Deutsch oder Französisch verständigen könne. Kulturelle Aktivitäten dagegen entwickle sie in Südafrika nur gelegentlich, mal nach Cape Town ins Konzert oder in eine Theater-Aufführung oder abends in das hiesige Kino.
Dienstag, 29. März. Herzlicher Abschied von Pia und Joschi zur Weiterfahrt nach Milkwood Manor mit 90-minütiger Dauer entlang der Garden Route, die In Mosselbay (Muschelbucht) beginnt. Wir besuchen den berühmten uralten Post Office Tree, in den Touristen ihre Ansichtskarten werfen, reisen weiter nach Wilderness und gelangen an den Lieblings-Urlaubsort betuchter Südafrikaner: Plettenberg Bay! Und enden nach dem Einchecken bei einem wiederum gesellig fröhlichen Abend im angeschlossenen Hotel.
Fahrt über die Plettenberg Bay hin zu den Birds of Eden, der weltweit größten Vogel-Freiflugkuppel auf 23.000 Quadratmeter mit über 3.500 Gefiederten und über 100 Vogelarten. Das aufgespannte Netzwerk schätze ich in ca. 30 bis 50 Meter Höhe. Beim Betreten rauschen zunächst nur die Dezibel der Vogellaute, und man sieht oder erkennt zunächst so gut wie nichts. Erst allmählich beginnt man Details wahrzunehmen und entwickelt einen Blick dafür.
Dankbar nehme ich zur anschaulichen Beschreibung der Anlage Heidruns Unterlagen zur Hand und zitiere: „Das ganze Areal ist sehr abwechslungsreich gestaltet. Es fließt ein Fluss durch das Tal und es wird sogar Donnergrollen im Regenwald simuliert, damit der Besuch für die Touristen zu einem echten Erlebnis wird. Durch Wasserleitungen, welche in der riesigen Kuppel, die das gesamte Gehege überspannt, integriert sind, kann diese ‚künstliche Heimat‘ der Tiere auch beregnet werden. Aussichtsplattformen und eine Hängebrücke geben dem Besucher die Gelegenheit, die Vogelwelt ungestört zu beobachten und es führt sogar ein Weg hinter einem Wasserfall hindurch. Durch die Aufteilung der Voliere in verschiedenen Ebenen, können die unterschiedlichsten Vögel in ihrem natürlichen Lebensraum bewundert werden. So bietet der Garten sowohl für Wasservögel, welche in herrlichen Teichen zuhause sind, wie auch für farbenfrohe Papageien, die durch die Lüfte fliegen, den perfekten Lebensraum.“ In der Tat: Die gesamte, vorzüglich begehbare, bestens gepflegte Anlage ist zur bemerkenswerten Heimat für eine Vogelwelt geworden, deren erstaunliche Vielfalt sich namentlich, aber längst nicht erschöpfend, nur mit Hilfe von Heidruns präzise beschriftetem Fotobuch rekonstruieren lässt: Grüner Turako und Livingstone’s Turako, Glanzstar und Gefleckter Dickkopf, Karibischer Flamingo und Orinoko-Gans, Hadeda-Ibis, Scharlachroter Ibis und Canvasrücken-Ente, Hauben-Perlhühner und Kronenkraniche, Gesprenkelte Felsentauben und Graulärmvögel, Galah-Kakadu und Löffelschnäbel, Tunnelschnabel-Tukan und farbenprächtigste Papageien, Goldfasane, Goldbrust-Glanzstar, Grauer Bananenfresser, Olivendrossel, Hornschnabel, Moorhuhn und Halsbandnektarvogel bevölkern und befliegen das Gelände. Meine eigene ornithologische Beobachtung nimmt sich gegen diesen namentlichen Reichtum recht bescheiden aus, die eigentlich nur der Pointe wegen erwähnenswert ist. An einem Mast hoch oben glaubte ich ein gelbes Warnschild zu erkennen, das sich aber bei genauerem Hinsehen als der Bauch eines Papageis entpuppte.
Immer noch bewegen wir uns längs des kraftvoll anbrandenden Indischen Ozeans. Bei Enrico, einem seit Jahrzehnten ansässigen Italiener, unterbrechen wir für zwei Stunden die Weiterreise, um das eben Erlebte gesprächsweise zu rekapitulieren. Heidrun widmet mir ganz persönlich eine witzige Doppelseite schönster, für sich ganz allein sprechender Bilder im Album, als ich bestens gelaunt und mit sichtbarem Genuss, wie ihn nur das Stammhirn aus Urzeiten der Menschwerdung, jeden Intellekt überwölbend, hervorzubringen vermag, eine große Tiramisu vor aller Augen verzehre.
Meinem Tagebuch entnehme ich noch folgende überraschende Notiz: „Erstaunlich miserables Abendessen in der Gaststätte neben dem Hotel.“ Ich nahm’s, trotzdem sehr gelassen, weil sonst das Essen immer und überall bestens mundete, aber eben nicht alles immer perfekt sein kann.
Ab 9 Uhr morgens fahren wir heute die Küste entlang des Indischen Ozeans in die Great Fish River Lodge im Kwandwe Private Game Reserve, dem Endaufenthalt dieser großen Reise. Heidrun mahnt zur Eile, weil wir eine fünfstündige Fahrt vor uns haben und noch vor Beginn der nachmittäglichen Safari im Game Reserve eintreffen wollen. In diesen Tagen sind vier Safaris eingeplant und bereits gebucht, jeweils zwei am frühen Morgen und zwei während der Abenddämmerung, weil sie als die besten Zeiten gelten, um Wildtiere (vielleicht sogar die „Big Five“) zu erleben. Um es gleich zu sagen: Vier der fünf begegneten uns: Löwe, Büffel, Nashorn und Elefant; nur der Leopard fehlte. Bei den Großen Fünf geht es nicht um die Größe der Tiere, sondern darum, wie schwierig sie in der Vergangenheit zu erlegen waren.
Heidrun versprach uns allen einen sehr entspannten, auch erlebnisreichen Aufenthalt als Ausklang der Reise. Und genauso kam es dann auch. Diese Lodge empfand ich in jeder Beziehung als großartig. Neun Chalets, jedes mit einem kleinen Pool ausgestattet, sind in die Savanne eingebettet, höchst komfortabel eingerichtet, mit viel Sinn für räumliche Aufteilungen, für Komfort und heimischen Stil. Gleichzeitig wird man zu größter Vorsicht ermahnt und daran erinnert, dass man sich auch hier in der freien Wildbahn bewege. Das heißt konkret: Der kurze Weg vom Haupthaus zu den angelegten Unterkünften während der Abend- und Morgendämmerungen und erst recht in der Dunkelheit geschieht in bewaffneter Begleitung des Personals. Einmal im Chalet angekommen, sperrt man von innen ab. Wer des Nachts bis zum Morgengauen das Chalet verlassen will, greift zum Telefon und lässt sich abholen. Ich handelte mir einmal den kurzen strengen Verweis ein, weil ich bereits vor meiner Unterkunft stand und nicht im Chalet auf des Rangers Klopfzeichen wartete.
Alle vier Safaris in einem großen Rover lassen sich mit Hilfe von Heidruns Fotoalbum, auf das ich mich erneut konkret stütze, mühelos rekonstruieren und zugleich bündeln.
Vor der ganzen Anlage schlängelt sich, tief eingeschnitten, der schmale, gelblich braune Great Fish River durch die buschbewehrte Savanne. Wir nehmen unsere Plätze auf dem Rover ein und vertrauen vollständig den Künsten des weißen Rangers Alfie und seines schwarzen Spurenlesers. Es sieht alles so friedlich aus, wenn man sich im achtsitzigen Wagen in die freie Natur begibt. Der Eindruck stellt sich unmittelbar ein und hält fortwährend an. Neugierig gespannt folgen alle Augen dem Zeigefinger des schwarzen Mannes, der scharfsichtig noch die kleinsten Bewegungen in der Landschaft wahrnimmt, auch auf große Entfernungen hin, während meine zivilisationsgetrübten Leseaugen zunächst kaum etwas erkennen. Die großen Wildtiere, die in der Nähe grasen, schon: Zebras, Giraffen, die hochhakig elegant, würdevollen Schrittes die Wege queren, die wuseligen Warzenschweine und still grasenden Weißschwanzgnus. Einmal nur, und das tags zuvor, während der Hinfahrt zur Lodge, sahen wir einen Geparden, malerisch hingestreckt auf einem Stein, die Ebene aufmerksam beobachtend. Diese Cheetah sahen wir in den folgenden Tagen jedoch nie wieder. Oryx- und Säbel-Antilopen und viele Springböcke bewegen sich aufmerksam, doch gemächlich in der Landschaft, oft weit von uns entfernt. Doch man folgt einfach den Signalen und dem Zeigefinger des bestens ausgebildeten Mannes. Vorbei an Flusspferden, die, kaum sichtbar, in Tümpeln und kleinen Seen liegen, nur die Rücken sind zu erkennen. Alfie lenkt den Rover nah an eine Büffelherde heran. Größte Vorsicht ist augenblicklich geboten, weil so eine Herde vollkommen unberechenbar reagieren kann. Wir sehen einen Elefanten, eine Nashorn-Mutter mit ihrem Kleinen, einen großen Vogel Strauß, unterwegs mit seinem Kindergarten, aber auch zwei junge, offensichtlich satte Löwen, an die wir dicht heranfahren, dann stillhalten und sie minutenlang beobachten und natürlich fotografieren. Diese Bilder der freien Natur und die Fotos im Album verstärken den Eindruck einer offensichtlich friedlichen Koexistenz aller Wildtiere. Alfie bemerkte trocken, man meine, auf den Löwen reiten zu können, wenn man sie so friedlich daliegen sehe. Doch er, die Einheimischen und der schwarze Spurenleser wissen es besser. Selbst mir gingen abends vor dem Einschlafen noch die Arbeiten professioneller Tierfilmer durch den Kopf, deren Dokumentationen zuhause vom TV-Gerät wieder und wieder ins Wohnzimmer flimmern, mit ernüchternden Ergebnissen. Dass von zehn Löwenjungen acht das erste Jahr nicht überleben; bei Geparden sind es neun von zehn, weil sie von Löwen, Hyänen und Leoparden gefressen werden oder einfach verhungern. Dass Löwenmütter es nicht der Mühe wert finden, sollten von einem größeren Wurf nur eines oder zwei überleben, sie durchzufüttern, weil der Aufwand für die Bestandserhaltung zu groß wäre. Dass Löwenmännchen nur drei oder höchsten fünf Jahre ein weibliches Rudel aus Müttern, Tanten und Großmüttern anführen, dann werden sie von jüngeren und stärkeren Löwen vertrieben und fristen in der Folge ein elendes Dasein, leben von Aas und abgejagter Beute schwächerer Raubkatzen wie Geparden, die ihren Riss nicht verteidigen können. Es ist schon vorgekommen, dass solche Löwen aus Hunger und Verzweiflung Elefanten anspringen und dabei ihr Leben verlieren. Dass Löwenmännchen, wenn sie ein neues Rudel übernehmen, grundsätzlich die Kinder ihres Vorgängers töten, selten gegen den Widerstand der Löwenmütter, weil die Männchen ihre eigenen Gene fortgepflanzt wissen wollen. Dass Zebra-Väter ihren Nachwuchs zu Tode treten vor den Augen der verzweifelt um ihr Junges kämpfenden Mutter. Dass Elefantenjungbullen aus purer Lust und überschüssiger Kraft den Nachwuchs zu Tode traktieren, wenn Mütter und Tanten nicht aufpassen, um den pubertierenden Kraftprotz abzudrängen.
Evolutionsgeschichtlich bleibt es für mich ohnehin ein Rätsel, warum die Jungtiere anderer Gattungen grundsätzlich getötet werden, auch dann, wenn sie keine Nahrungskonkurrenten sein können. Ein Löwe erjagt niemals die Beutetiere eines Gepards und umgekehrt. Gleiches gilt von den Beutetieren der Leoparden, die Nacht- und Schleichjäger sind, während Geparden ausschließlich bei Tageslicht ihre anvisierte Beute über die Savanne hetzen.
Ja gewiss, ich schweife ab, aber diese Assoziationen stellten sich abends nach den Touren auf meinem Nachtlager ein, obwohl all das nicht glauben möchte, wer sich hier auf Safari-Touren begibt. Und wer bekommt so etwas schon gern auf diesen wunderbaren, angespannt konzentriert aufmerksamen Fahrten durch Busch und Savanne zu Gesicht? Und wer will das überhaupt sehen in dieser so friedlich scheinenden Landschaft?
Der berühmte und mittlerweile auch mir vertraute „Sundowner“ vor rot-orange leuchtendem Abendhimmel, in den ich minutenlang ganz versonnen hinein starre, mit gegrillten Speisen und fein gemixten Getränken in Händen, zeigt uns als gut gelaunte und bestens unterrichtete Truppe.
Eine sich wiederholende Beobachtung während dieser ereignisreichen letzten Tage überraschte mich angenehm. Der weiße Fahrer Alfie, der zugleich Hauptverantwortlicher der Safari und ausgebildeter Ranger ist, begegnete seinem schwarzen Spurenleser („Tracker“) uneingeschränkt als gleichberechtigten, obwohl rangniedrigeren Kollegen mit höflichem Respekt und vornehmer Aufmerksamkeit, während ich sonst auf dieser Reise die schwarzen Bewohner zumeist und viel zu oft in einer dienenden Funktion zu sehen bekam.
Die beiden Fotobücher und meine Notizen versonnen, tief durchatmend beiseite legend, erinnere ich mich gerne daran, wie ich wiederholt in den höchsten Tönen und aus tiefster Überzeugung Heidruns perfekte theoretische Planung und umsichtige praktische Umsetzung lobte. Was mich aber am meisten beeindruckte und was bisher wohl nirgends geschrieben steht, ist, dass immer noch ein großartiger pädagogischer Eros in ihr schlummert. Obwohl seit Jahren beruflich nicht mehr zur Anschauung gebracht, ist seine Kraft, die man längst in den Tiefenschichten der Seele abgelagert glaubt, immer noch wirksam. Ich profitierte sogar am meisten davon.
Meine Aufzeichnungen enden hier. Nach herzlicher Verabschiedung von den freundlichen, naturverbundenen Gastgebern der Great Fish River Lodge im Kwandwe Private Game Reserve, der langen Fahrt nach Port Elizabeth und der Rückgabe des Vans, nach dem Einchecken zum Flug nach Johannesburg und dem geduldigen Warten dort auf den Start des Nachtflugs nach Deutschland, nach langem Rückflug selbst und der Landung in München endete die Reise. Nach dem Beladen des wiederum pünktlichen „Airport Liners“, der uns zuverlässig nach Maxhütte brachte, war ich wieder daheim, lediglich zwölf Flugstunden von Südafrika weg – und dennoch Welten entfernt.
Last but not least folge ich einem großen Bedürfnis, mich für die anhaltend zugewandte Fürsorge und ungebrochen freundliche Aufmerksamkeit der Ehepaare Heidrun & Horst Baranski, Johanna & Horst Hubmann und Eva & Peter Lehmann herzlich zu bedanken! Zu keinem Zeitpunkt fühlte ich mich isoliert oder zu wenig wahrgenommen. Sie alle waren, Tag für Tag, meine wunderbaren, stets zuverlässigen Begleiter.
Literarisches: J. M. Coetzee: Schande (Disgrace) und andere
Parallel zur Abfassung dieses Berichtes las ich den Roman Schande (Disgrace) des bereits erwähnten gebürtigen Südafrikaners J. M. Coetzee, der heute in Australien lebt, um Atmosphären einzufangen, die der bloßen Anschauung eher entzogen sind. Denn, wie ich kürzlich in einer Rezension von Ernst Osterkamp über Hans Blumenberg, ihn zitierend, las, fand jener heraus, „was den Philosophen die Lektüre großer Poesie unentbehrlich machte, weil Dichtung, wie Kunst überhaupt, es mehr mit der Wahrheit zu tun hat, deren wir bedürfen, als mit der, die wir schon besitzen.“
Der Roman Schande, publiziert 1999, also fünf Jahre nach dem formalen Ende der Apartheid mit den ersten freien Wahlen für Schwarze, Farbige und Weiße gleichermaßen, demonstriert jene Kulturunterschiede und sozialen Gegebenheiten Südafrikas, die einem Mitteleuropäer absolut fremd bleiben müssen. „Schande“ ist hier auf mehreren Ebenen literarisch gefasst. Es sei mir erlaubt, in wenigen Sätzen zusammenzufassen, worin denn eigentlich diese Schande besteht, von der dieser Roman so eindringlich zu erzählen weiß.
David Lurie, jene Hauptfigur, die der Erzähler kein einziges Mal bei ihrem Namen nennt, ist ein Literaturprofessor, der wegen eines schändlichen Vergehens (Verführung einer Studentin, also einer Abhängigen) aus dem Dienst und auf seinen eigenen ausdrücklichen Wunsch entlassen wird. Er zieht in die ländliche Region auf die Farm seiner Tochter Lucy. Beide werden einmal von drei Schwarzen überfallen und übel zugerichtet, Lucy dreifach vergewaltigt, „von hasserfüllten Schwarzen“, wie sie selbst zugibt. David Lurie, erzogen im angelsächsischen Rechtsempfinden und Staatsverständnis, will die Polizei und staatliche Organe einschalten, was die Tochter strikt ablehnt. Obwohl David Lurie lange Zeit gegen das eben erlittene Unrecht rebelliert, erlahmen im Fortgang des Romans zusehends seine Kräfte durch allmähliche Gewöhnung und wachsende Lethargie. Seine Tochter hat sich längst zunächst für den Leser unsichtbaren Stammesgesetzen unterworfen. Die Folge der Vergewaltigungen ist eine Schwangerschaft, und einer der Übeltäter ist ein Verwandter von Petrus, ihres Helfers und Mitverwalters auf dem Hof. Die für Lurie unfassbare Lösung des Konflikts: Petrus heiratet die schwangere Lucy; damit ist sie in sein Stammesgeflecht aufgenommen und weitgehend vor künftigen Überfällen sicher. Den Vergewaltigern passiert nichts, und einer von ihnen, der Verwandte von Petrus, sei nach seinen Worten eigentlich „ein guter Junge.“ Lucy fügt sich klaglos in ihr Schicksal, weil das Land, wie sie zu ihrem verständnislosen Vater sagt, so ist wie es ist: beherrscht von uralten Stammesgesetzen, fernab jeglicher funktionierender staatlicher Einrichtungen, die heute ohnehin weitgehend vom ANC durchsetzt und mittlerweile fast vollständig korrumpiert sind.
Als ich den Roman vor Jahren zum ersten Mal las, ließ er mich reichlich verständnislos zurück, weil ich nicht begriff, worin denn eigentlich die Schändlichkeiten bestanden. Natürlich las ich von stets drohender und ausgeübter Gewalt und dem ungebührlichen Verhalten eines Professors einer Studentin gegenüber, aber die eigentliche Schande war mir denn doch nie so recht begreiflich. Auch die glänzende Verfilmung mit John Malkovich in der Hauptrolle half hier nicht weiter, trotz mächtiger Bilder, starker Szenen und dunkler Dialoge. Erst nach dieser Reise, dem Nachdenken darüber und der erneuten Lektüre begann ich den Roman besser zu verstehen, was jenseits touristischer Wahrnehmung geschieht, auch wenn kleine und manchmal offensichtliche soziale und gesellschaftliche Unebenheiten selbst touristischen Augenpaaren nicht auf Dauer verborgen bleiben können.
Schande zeigt hellsichtig, dass der neue Staat und seine Institutionen, auch nach der offiziellen Abschaffung der Apartheid, nicht funktionieren, und dass sich dieser Mangel wie Mehltau über das Land legt. Die hohe Kriminalitätsrate heute verdankt sich immer noch uralten Stammesrivalitäten, die allein ihren ungeschriebenen Gesetzen folgen. Deshalb versagen die Staatsorgane so gründlich. Weil es weder ein Verfassungsverständnis noch korrekt funktionierende Institutionen gibt, wird Unrecht landesweit als gegeben hingenommen und geradezu schicksalhaft akzeptiert. Davon handelt dieser Roman. Das ist die eigentliche Schande und weniger die vordergründigen kriminellen Taten.
Einem Vergrößerungsglas ähnlich, das sich, je nach Sonneneinstrahlung, in ein Brennglas verwandelt, wirkt die Roman- und Kriminalliteratur Südafrikas, vorzüglich jene von Coetzee und Max Annas, auf mich. Sie dringt vom Schein, den undurchsichtigen Schleier gleichsam zerreißend, zum Sein selbst durch. Die Jahrhunderte währende Kolonialzeit, angefangen 1652 seit den ersten Handelsniederlassungen der Vorfahren der heute Afrikaans sprechenden Buren, die aus den Niederlanden, aus dem deutschen Reichsgebiet und Frankreich ans Kap der Guten Hoffnung kamen, gefolgt von noch dominanter, gewalt- und kriegsbereiter auftretenden englischen Kolonialherren, verformte die sozialen, kulturellen und sprachlichen Ursprünge des Landes und seiner Bewohner offensichtlich bis zur Unkenntlichkeit.
Historisches: Martin Bossenbroek: Tod am Kap
An diesem Punkt schaltet sich auch die Zunft namhafter Historiker ein. Gemeint ist vor allem die fulminante, faktenreiche, Quellen gesättigte, preisgekrönte und mittlerweile gelesene Darstellung Tod am Kap. Geschichte des Burenkriegs (1899-1902) des Niederländers Martin Bossenbroek. Geschrieben ist sie aus der Perspektive des niederländischen Juristen Willem Leyds, des britischen Kriegsberichterstatters Winston Churchill, des späteren Premier im Zweiten Weltkrieg und des burischen Kämpfers Deneys Reitz. Ihre Niederschriften in Tagebüchern, Briefen und Reportagen geben unmittelbare Einblicke in die Vorgeschichte und Motive der wichtigen politischen Akteure und die Folgen der Auseinandersetzungen. Die Ergebnisse der Studie seien hier in der gebotenen Kürze genannt. Angelockt von Gold und Diamanten kommen immer mehr Abenteurer in die Burenrepubliken Oranje-Freistaat und Transvaal, die meisten von ihnen Briten, denen die Buren aber die rechtliche Gleichstellung verweigern. London hatte jedoch längst ein begehrliches Auge auf den Süden des Kontinents geworfen und nahm diese Verweigerung zum willkommenen Anlass, 250.000 Soldaten ans Kap zu schicken, um die gesamte Region dem britischen Weltreich einzugliedern. Bossen-broeks Schilderung der Vorbereitung, des absichtlichen Scheiterns der Verhandlungen durch die Briten und des Krieges selbst zeigt, wie ihre Truppen nicht nur die beiden Burenrepubliken verwüsteten und den Krieg bewusst auf die Zivilbevölkerung ausdehnten, sondern auch, wie sie 230.000 Menschen in Camps internieren, wovon geschätzte 46.000 sterben, die meisten davon Kinder. Churchill berichtete für die Londoner „Morning Post“ und war fest überzeugt, dass die Briten überhaupt ein Segen für die Menschheit seien und dass der Sieg über die Buren höchstens einige Wochen dauern werde. Doch dieser sogenannte „Burenkrieg“ dauerte drei Jahre und gehört zu den brutalsten und blutigsten Auseinandersetzungen der gesamten Kolonialgeschichte.
Dies hier kurz zu referieren, ist für die Gegenwart des Kaps keineswegs eine Bagatelle, sondern diese Geschichte wirkt bis heute fort, ist nicht vergessen und bestimmt das prekäre Verhältnis zwischen den Nachfolgern der Buren und Briten in einem ohnehin hochexplosiven Bevölkerungsgemisch mit zum Teil gänzlich unterschiedlichen Stämmen.
Alex Perry und Johannes Dieterich mit Länderporträts und den ANC
Jenseits der Beschreibung historischer Entwicklungen gehört selbstverständlich auch die Einsicht, dass der African National Congress, diese genuine Befreiungsbewegung Südafrikas mit dem charismatischen Nelson Mandela an der Spitze und der formalen Abschaffung der Apartheid sich ganz ähnlicher Machtmechanismen bedient wie seine weißen Vorgänger und den Staat, ihren Staat, als eine legitime Beute nicht nur betrachtet, sondern völlig ungeniert für sich okkupiert. Das belegen brandaktuell das Kapitel Südafrika des Engländers Alex Perry mit seinen Reportagen: In Afrika. Reise in die Zukunft, erschienen 2016, und das Buch von Johannes Dieterich: Südafrika. Ein Länderporträt, erschienen im März 2017.
Schwarze Südafrikaner mit Insider-Wissen sagen ganz unverblümt, dass der ANC keine Ideologie mehr habe. Er morde seine Mitglieder heute nicht für ein großes noch zu verwirklichendes Ziel, sondern weil jene wenigen Aufrechten in der Bewegung Missstände aufzudecken versuchen, vor allem den dreisten Griff in die Staatskasse in Milliardenhöhe.
Zur Illustrierung dessen folge ich hier der Darstellung Perrys, daraus wegen ihrer Prägnanz in einigen zentralen Punkten zitierend: „Es geht dem ANC nicht mehr darum, das Leben der Armen zu verändern oder eine Gesellschaft aufzubauen, in der Gleichheit herrscht. Die Leute treten ein, weil der ANC die Macht im Staat hat und Zugang zu den Ressourcen besitzt.“
(S. 260) „Zu den erstaunlichsten Widersprüchen der Machtübernahme durch afrikanische Befreiungsbewegungen gehört die Tatsache, dass die Ungleichheit danach oft ein ebenso obszönes Ausmaß erreicht wie unter dem Kolonialismus.“ (S. 261 f.) Denn als der Kampf gegen Kolonialherrschaft und Apartheid vorüber war, sahen diese Freiheitskämpfer keinen Grund nach Recht und Gesetz zu handeln. Sie verstanden sich als „freie Denker und Revolutionäre, rechtschaffen radikale Unternehmer, die sich nahmen, was sie wollten, und darin ihre Befreiung fanden. Dieses Denken passt bestens zur Revolution. Aber es sorgt für schreckliche Herrscher.“ (S. 262)
„Als die ANC-Revolutionäre, die einst für eine Besserstellung gekämpft hatten, erst einmal an der Macht waren, sorgten sie dafür, dass es ihnen besser ging, indem sie Staatsgelder an sich brachten, oft in Zusammenarbeit mit ihren alten kriminellen Freunden <aus revolutionären Zeiten, F.A.>. Da die Macht so lukrativ war und skrupellos eingesetzt wurde, töteten Genossen einander schon bald wegen eines Häuserkaufs oder eines Staatsauftrags oder einfach, weil sie meinten, an der Reihe zu sein.“
„Die Legende Mandelas und des großen Kampfes hatten der Partei solch eine Macht verliehen, dass die von ihr begründete Demokratie dadurch nahezu bedeutungslos wurde (…) Und da der ANC <wegen der Treue seiner Anhänger, die in den großen Städten zwar nachlässt, wie ganz aktuell aus den Nachrichten zu erfahren ist, FA>, nicht gezwungen war, sich um die Dinge zu kümmern, tat er es auch nicht. Seine Leistungen waren jämmerlich.“
(S. 266) Ein geradezu verblüffendes Ergebnis der Untersuchungen Perrys ist, dass für die Weißen die Zeit nach der Apartheid ein Segen war, kurz auf den Nenner gebracht: Noch mehr Geld, aber kein Schuldgefühl mehr. „Die meisten <der Schwarzen> arbeiteten, falls sie einen Job hatten, immer noch in denselben weißen Haushalten oder von Weißen besessenen Betrieben wie vor der Revolution. Deutlich veränderte sich nach dem Sieg des ANC allenfalls das Leben der höheren Parteifunktionäre. Stadträte und Minister des ANC bauten ganze Reiche der Patronage und der Selbstbereicherung auf.“ (Ebd.)
Noch differenzierter, noch kenntnisreicher die gesellschaftlichen Tiefenstrukturen auslotend und die schier unüberbrückbaren sozialen Gegensätze Südafrikas ausleuchtend, analysiert Johannes Dieterich, Journalist, studierter Historiker und Theologe, der seit über zwei Jahrzehnten in Johannesburg lebt, alle Aspekte des Lebens in diesem Land. Auch für ihn, den wohl gegenwärtig besten weißen Kenner, läuft Entscheidendes schief: „Korruption, Vetternwirtschaft und Patronage-Politik drohen das Fundament eines stabilen Staatswesens zu unterspülen. Der Zusammenbruch öffentlicher Dienste – vor allem der Strom- und Wasserversorgung – ist nur ein Indiz für den wohl gefährlichsten Bazillus am Kap der Guten Hoffnung: Viele der Volksvertreter und Staatsdiener sind weniger am Gemeinwohl als am eigenen Vorteil, am Füllen der eigenen Tasche interessiert.“ (S. 16 f.) Dieterich selbst nennt die Weißen Südafrikas nie „Weiße“ oder die „weiße Minderheit“, höchstens einmal im Zitat, sondern immer nur „die Bleichen“, die „bleiche Minderheit“, „Bleichmenschen“, „Bleichgesichter“ oder einfach „der bleiche Bevölkerungsteil“.
Träumte Nelson Mandela 1994 noch von einer „Regenbogen-Nation“, in der alle Rassen und Farben vereint friedlich miteinander leben, so diagnostiziert Johannes Dieterich jetzt im Jahr 2017 – und er reiht sich damit selbst in die Riege scharfsinniger Beobachter des Landes ein – längst eine „Cappuccino-Gesellschaft“: „unten eine große schwarze Basis, dann eine kleine weiße Schicht geschäumter Milch und schließlich obendrauf ein paar dunkle Schokoladenstreusel.“ (S. 38) Die Schokosplitter darauf sind die wenigen Schwarzen, die es mit Lackschuhen und feinen Anzügen ganz nach oben geschafft haben. Jedenfalls nehmen er und viele andere längst Abschied von Mandelas einst erträumten und erhofften „Regenbogen-Nation“, in der alle Menschen ohne Unterschiede ihren gleichberechtigten legitimen Platz in der Gesellschaft des Staates finden.
Das Obszöne dabei ist: „Dass sich in Südafrika grundsätzlich etwas verändern muss, scheinen weder die burischen Farmer noch die englischen Vorstandsvorsitzenden wirklich begriffen zu haben. Sonst würden sie von sich aus Strategien entwickeln, um dem noch immer
gegenwärtigen Unrecht aus der Vergangenheit zu begegnen. Die meisten „Bleichgesichter“ nehmen nach wie vor nicht wahr, ,,dass ihr Wohlstand auf Kosten der schwarzen
Bevölkerung erwirtschaftet wurde. Sie gehen weiterhin davon aus, dass sie einfach besser als ihre dunkelhäutigen Landsleute sind – auch wenn sie das nie offen sagen würden. Es ist der Grundstein des weißen Überlegenheitswahns, das Fundament des Hunderte von Jahren alten Rassismus.“ (Dieterich, S. 102)
Man kann die zahlreichen von Johannes Dieterich differenziert entfalteten Themen für diesen Bericht gar nicht rekapitulieren, sondern allenfalls bündeln, und den Leser so zur eigenen Lektüre ermuntern. Der Bogen seiner durchweg spannend geschriebenen Analysen reicht von der illusionslosen Bestandsaufnahme des gegenwärtigen Zustands des Landes über die Ernüchterung nach dem Rausch der Befreiung durch den Regenbogenmacher Nelson Mandela zur allgemeinen Enttäuschung über die meteorologische Metapher Vorhersage veränderlich – Wege und Irrwege aus der Misere bis hin zum vermeintlichen Ende der Dunkelheit, betitelt mit Lichtblicke – was hoffnungsfroh stimmt.
Besonders bedrückend liest sich das Kapitel Diepsloot, der Kamin zur Hölle – vom Leben und Sterben im Slum, ein Township am nördlichen Stadtrand von Johannesburg (S. 123 ff.). Ich gehe hier nicht auf die ungeheuerlichen Details ein, mit täglich bis zu sieben Ermordeten im Slum, sondern erwähne nur, dass die staatlichen Organe hier so vollständig versagen, dass sich eigene Bürgerwehren bilden, die jeden Täter unmittelbar bestrafen, nicht nach einer wenigstens laienhaft halbjuristischen Anhörung, sondern sofort, und das mit einer Härte und Brutalität, die weit über die kriminelle Tat selbst hinaus gehen, ohne Maß und Ziel, um einer angemessenen Strafe wenigstens grundsätzlich gerecht zu werden. Für solche Schilderungen sieht sich Dieterich genötigt, den potenziellen Leser und überzeugten Südafrika-Reisenden schon vorab um Absolution zu bitten und ihm keinen geharnischten Protestbrief zu schrei-ben, „in dem Sie mich für meine angeblich viel zu negative Darstellung des Urlaubspara-dieses zur Rechenschaft ziehen. Denn Sie werden das Kap der Guten Hoffnung von seiner strahlenden Sonnenseite kennenlernen und über atemberaubende Strände, grenzenlose Halbwüsten sowie goldgelb schimmernde Savannen fliegen, während Sie um die Slums und Schlachtfelder der Bevölkerungsproteste einen weiten Bogen machen (…) Und weil Sie von diesem Buch keine Reisebroschüre, sondern ein Porträt des wahren Südafrikas erwarten, werde ich Ihnen auch die finsteren Abgründe des Landes zumuten.“ Das Versprechen eines Trostes wird sogleich angehängt, indem er nach diesem Kapitel „auf die noch immer gültigen Verheißungen der Regenbogennation zu sprechen komme und warum das Kap noch immer zu Recht die Apposition ‚der Guten Hoffnung‘ trägt.“ (S. 122 f.)
Eilig, aber keineswegs flüchtig zusammengefasst, bleibt auffällig, liest man diese Bücher intimer Kenner des Landes, die gleichzeitig seine leidenschaftlichen Liebhaber sind, dass sie zwar allesamt drastisch, unverhüllt und Fakten gesättigt den Niedergang Südafrikas beklagen, aber dennoch vom Land selbst ungebrochen fasziniert bleiben, immer verbunden mit der leise mitschwingenden Hoffnung, dass es künftig nicht so werden müsse, wie die Gegenwart befürchten lasse. Diese ambivalent schmerzhafte, geradezu schostakowitsch‘sche aufreibende Grundmelodie führt beispielsweise bei Alex Perry zu nicht auflösbaren Widersprüchen. Der Untertitel seines Buches verheißt ja eine Reise in die Zukunft, während er für Südafrika genau diese Zukunft nicht sieht. Auch wenn Johannes Dieterich zuwendungsbereit liebevoll die zart keimenden Pflänzchen einer Besserung des Landes begießt, sind die Ergebnisse seiner Analysen unverblümt und über weite Strecken düster, jedenfalls vollständig frei von Illusionen. Konsequent handelte allerdings der Literat und Schriftsteller J.M. Coetzee. Er kehrte dem Land am Kap für immer den Rücken und ließ sich in Australien nieder, am besten gleich an das andere Ende der Welt also.
Und weil ich gerade bei der Wiedergabe kenntnisreicher Literatur und ihrer Prognosen angelangt bin: Auch meine im Lauf von zwei Jahren gesammelten seriösen politischen Presse-Artikel und politischen Kommentare über Südafrika, 21 an der Zahl, die ich aufmerksam las, geben einen recht guten Einblick in das politische Tagesgeschehen. Nahezu allen Berichten gemeinsam ist ebenfalls ein sehr pessimistischer, desillusionierter Grundton über die Zukunft des Landes, ein Pessimismus, den die meisten Südafrikaner heute wohl teilen. Nur in einigen Beiträgen schimmert etwas Hoffnung zum Besseren durch. In meine Reiseerzählung sind die wichtigsten davon eingearbeitet. Im Literaturverzeichnis sind die kompletten Untertitel mit aufgeführt, die wenigstens die Zielrichtung jedes Artikels angeben.
Ganz in diesem Sinne tickerte in der ersten Augustwoche 2017 eine der letzten politischen Nachrichten aus diesem Land über den Äther, dass der gegenwärtige Präsident Jacob Zuma erneut ein Misstrauensvotum des südafrikanischen Parlaments mit 198 zu 177 Nein-Stimmen überstanden hat. Ihm ist längst Korruption, Ämterschacher und Machtmissbrauch nachgewiesen. Zumas schärfster oppositioneller Kritiker aus den Reihen des Parlaments, heißt Julius Malema, einst ein feuriger Zögling Jacob Zumas und tief korrupt, der sich selbst hemmungslos bereicherte. Aus dem ANC hinausgeworfen, weil er Zuma, dem er einst bedingungslos folgte, zu mächtig wurde, gründete er die Partei Economic Freedom Fighters (EFF). Das vordergründige Problem dabei: „Der rote Teufel vom Kap“ will die weißen Großgrundbesitzer enteignen, weil kein Weißer, allesamt Kolonialherren in den Augen Malemas, ein Recht auf Grund und Boden in Afrika besitzt. Robert Mugabe in Simbabwe, der die weißen Farmer vertrieb und sein Land dabei vollständig in den Ruin trieb, aber immer noch an der Macht festhält, ist Malemas Vorbild ebenso wie Nicolás Maduro in Venezuela. (Der südamerikanische Staat zerfällt gegenwärtig vor den Augen der Weltöffentlichkeit). Voller Verachtung spricht Julius Malema über den ANC und wie sich seine Mitglieder im Wettlauf um hohe Posten, lukrative Aufträge und reiche Pfründe gegenseitig umbringen. Das alles verheißt für die Zukunft nichts Gutes.
Dennoch gibt es den Hoffnungsschimmer eines wachsenden Protestes der Menschen auf der Straße gegen den Präsidenten Jacob Zuma. Es gibt die Begrenzung dieses Amtes auf zwei Wahlperioden. Und es gibt immer noch einzelne Aufrechte, die sich mutig wehren gegen Machtmissbrauch und Patronage, wie die hartnäckig Verfassung und Recht verteidigende Juristin Thuli Madonsela, die Johannes Dieterich mit Recht aufrichtig bewundert.
Aber nach meiner Überzeugung, wenn auch immer noch auf dem sandigen Boden eines alles in allem recht bescheidenen Wissens angesiedelt, ändert jeder Wechsel an der Spitze nichts am grundsätzlichen Problem der eigenwilligen Staatsauffassung seiner Politiker mit ihrem Stammes- und Klientelverständnis von politischer Macht, fernab geschriebener Verfassung und lebendiger Demokratie, auch wenn sie einmal nicht mehr aus dem ANC hervorgehen sollten. Dieses Grundproblem bleibt für sehr lange Zeit, wenn nicht für ganze Generationen noch bestehen. Und das wiederum braucht überhaupt nicht zu verwundern. Wie soll eine Gesellschaft, die seit vier Jahrhunderten wesentlich auf Gewalt und Kolonialherrschaft und in der Hochphase auf fünfzig Jahre Apartheid aufgebaut ist, mit strikter Rassentrennung und gezielter Unterdrückung einer großen schwarzen Mehrheit durch eine vergleichsweise kleine Minderheit – etwa fünf zu eins – innerhalb weniger Jahrzehnte genesen, wo doch die realen Machtverhältnisse immer noch die gleichen sind, wenn auch längst nicht so aufdringlich als noch vor drei Jahrzehnten? Das Ganze erscheint mir wie eine großangelegte Zangengeburt einer neuen Generation. Wir Europäer, die wir dort eigentlich gar nichts zu suchen haben und schon gar nicht dorthin gehören, brauchen uns hier kein Urteil anzumaßen. Einige schwarze Südafrikaner sagen klug und sehr zu Recht, dass wir Deutschen fast das gesamte europäische Judentum vernichtet hätten, aber viel rascher gesunden konnten, weil die Juden eben aus Deutschland verschwunden seien, wir aber mit den ehemaligen weißen Unterdrückern und Kolonialherren zusammenleben müssen; sie sind weiter unter uns.
Trevor Noah: Farbenblind
Wie zur Bestätigung von kenntnisreicher, genuin erfahrungsgesättigter Seite erschien vor wenigen Tagen, während ich an den letzten Seiten des Reiseberichts arbeite, die Autobiographie des 1984 in Johannesburg geborenen Südafrikaners Trevor Noah: Farbenblind. Sie übertrifft nach meinem Verständnis an emotionaler Einsicht, persönlich erfahrenen Lebens und direkter Eindringlichkeit noch die ästhetisch feinsinnigen, poetisch exakt durchkomponierten Romane und Erzählungen Coetzees, ebenso einige historische Darstellungen, soweit sie mir bekannt sind.
Trevor Noah wuchs in der Zeit der Apartheid als sogenannter Mischling auf (weißer Vater, schwarze Mutter), erlebte die Aufhebung der Rassentrennung und ihre Folgen unmittelbar, zog 2011 in die Vereinigten Staaten und legte dort eine ganz erstaunliche Künstlerkarriere hin, mit einer eigenen, wohl glänzend laufenden Satire-Sendung.
Ich darf gleich aus dem Eingang seiner Autobiographie zitieren, dann auch einiges aus dem Fortgang meiner Lektüre?
„Das Geniale an der Apartheid war, dass sie Menschen, die die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung stellten, dazu brachte, aufeinander loszugehen. Aparthass, im Prinzip. Man unterteilt die Bevölkerung in verschiedene Gruppen und sorgt dafür, dass sie sich hassen, dann kann man sie ganz leicht lenken“ <mindestens acht verschiedene Stämme mit unter-schiedlichen Sprachen existieren, F.A.> „Diese Stammesfraktionen bekämpften sich schon lange vor der Apartheid. Die weiße Regierung nutzte dann diese Feindschaft <und teilte die Stämme, F.A.> systematisch in verschiedene Gruppen und Untergruppen“ ein. „Diese Gruppen erhielten unterschiedliche Rechte und Privilegien, um die Feindschaft zwischen ihnen zu schüren.“ (S.11) Unmittelbar nach dem offiziellen Ende der Apartheid, erinnert sich der zehnjährige Trevor an die Gewalt, die danach ausbrach. „Der Triumph der Demokratie über die Apartheid, <die ja danach erst langsam, Schritt für Schritt eingeführt wurde, F.A.> wird manchmal auch als unblutige Revolution bezeichnet. Das liegt daran, dass bei der Revolution kaum weißes Blut vergossen wurde. Doch schwarzes Blut floss im Gefolge der Revolution reichlich.“ (S.21) Der spannendste Moment ist die Klärung der Machtfrage am Ende der weißen Herrschaft. „Nach dem Sturz des Apartheidregimes wussten wir, dass nun die Schwarzen herrschen würden.“ Doch „wer von ihnen? Eine Welle der Gewalt folgte, und es kam zum Machtkampf zwischen der Inkatha Freedom Party und dem African National Congress. Die politische Dynamik zwischen den beiden Parteien ist hochkompliziert, am einfachsten kann man sie mit einem Stellvertreterkrieg zwischen Zulu und Xhosa erklären. Die Inkhata Freedom Party wurde überwiegend von den Zulu dominiert, war militant und sehr nationalistisch. Der ANC war eine breite Koalition aus vielen verschiedenen Gruppen, doch die damaligen Führer waren hauptsächlich Xhosa.“ (S.21) Die Apartheid unterband den jahrhundertealten Konflikt zwischen beiden Stämmen, weil die Eindringlinge in das Land, die Weißen, der gemeinsame Feind waren. Jetzt waren die alten Kräfte und Konflikte wieder freigesetzt, und prompt ging man mit äußerster Brutalität aufeinander los, mit Tausenden Toten und in vielen Formen der Lynchjustiz.
Das Leben eines farbigen Jungen im Township Soweto ist jedoch weit mehr als die Erinnerung an Gewalt und Tod. Die Autobiographie kreist zwar um diese Erinnerung, zeigt zugleich aber den unbeugsamen Willen, nie aufzugeben, demonstriert den Umgang mit und den Widerstand gegen uralte, aber immer noch praktizierte Stammesrituale, seine kruden Bräuche und eigenwilligen Gesetze. Mich beeindruckten die Gewitztheit und Cleverness des Heranwachsenden, mit Hilfe seiner ebenso gewitzten, cleveren, nie resignierenden oder jammernden und unglaublich mutigen, christlich tief religiösen Mutter, die den Sohn zum Ertragen von Schmerzen und zur Härte des Lebens erzieht, um den vielen täglichen Widrigkeiten zu begegnen, ihnen schnell auszuweichen oder sie zu überwinden. Eine der liebenswerten Pointen des Buches ist, dass Trevors Mutter ständig unbesorgt bleibt, weil sie absolut sicher ist, Gott und eine Heerschar schützender Engel an ihrer Seite zu wissen, während der kleine Trevor all diese imaginären Gestalten vergeblich sucht und nirgendwo entdecken kann. Weil die Autobiographie klug komponiert ist, erfährt der Leser viel, sowohl über das Leben des Kindes und Heranwachsenden, als auch, am Ende jedes Kapitels, über die Politik im Land, mit straff gefassten Analysen.
Und noch etwas lernt man aus diesem Buch – und ich hörte es auch des Öfteren schon vom Weltmusiker Hubert von Goisern, der den gesamten afrikanischen Kontinent mehrfach bereist hatte –, vielleicht ist es das Wichtigste überhaupt. Es ist die schier unerschöpfliche Kraft schwarzafrikanischer Frauen. Sie meistern den schwierigen Alltag. Sie tragen die Last der Familie. Sie pflegen den Stamm. Sie kümmern sich um das Land. Sie sind nach meiner Überzeugung die einzige reale Hoffnung für Südafrika und streng genommen für den ganzen Erdteil. Es sind nicht die schwarzen Männer, die das Land voranbringen. Trevor Noah widmet das letzte Kapitel seiner Autobiographie allein seiner Mutter. Sie überlebt mit knapper Not einen Mordversuch ihres zweiten Ehemannes. Der kommt aus dem Volk der Tsonga, während Trevor Noahs Mutter eine Xhosa ist. Der kulturelle Unterschied zwischen den Stämmen könnte nicht größer sein. Bei den Tsonga gilt die öffentlich sichtbar gemachte totale Unterwerfung der Frau; bei den Xhosa sind die Frauen gleichberechtigt und entsprechend selbstbewusst. Diese Unterschiede werden auch komplett in dieser Ehe ausgelebt, bis es dem Tsonga-Mann, einem oft schwer betrunkenen, zur Gewalt bereiten Nichtsnutz, der kaum ein Einkommen hat und vom Verdienst seiner Frau lebt, zu dumm wird. Er streckt sie eines Tages mit mehreren Schüssen nieder, einen davon in den Kopf. Sie also überlebt und verliert trotzdem nicht ihren Lebensmut, auch nicht ihren Humor und ihren tiefsitzenden Glauben an Gott. Ihr Mann geht auf Bewährung nahezu straffrei aus.
Trevor Noah setzte seiner Mutter in Farbenblind ein Denkmal. Sie erzog ihren Sohn von klein auf zur Härte für das Leben in Südafrika, als Farbiger zwischen den Rassen, den Schwarzen und den Weißen. Ihrem Sohn erklärte sie in warmherzig ruhigem Ton: „…aber du darfst nicht vergessen, dass ich so hart mit dir umspringe und dir die Hölle heiß mache, weil ich dich liebe. Alles, was ich je getan habe, habe ich aus Liebe getan. Wenn ich dich nicht bestrafe, wird die Welt dich viel härter bestrafen. Die Welt liebt dich nicht. Wenn die Polizei dich erwischt, liebt sie dich nicht. Wenn ich dich verprügle, versuche ich, dich zu retten. Wenn sie dich verprügeln, versuchen sie, dich umzubringen.“ (S. 283)
Und das ist überhaupt das Bemerkenswerte und Überraschende zugleich, wenn man die kritisch wohlmeinenden Bücher der Europäer vom Kap neben jene der Natives wie Trevor Noah legt: Zu den ebenso verständnisvoll empathischen wie erbost kritischen Analysen europäischer Kenner wie Perry und Dieterich wegen eklatanter Fehlentwicklungen im gegenwärtigen Südafrika gesellt sich das Wissen um die großenteils erbarmungslosen Lebenserfahrungen jener, die mit Unterdrückung und Gewalt bis heute aufwachsen; sie schreiben zwar auch sensibel, aber dennoch vollkommen unsentimental über das Leben und Überleben Tag für Tag, weil sie es gar nicht anders kennen. Ohne Plan für eine irgendwie geartete Zukunft, da es immer nur um das Heute geht.
Ein Bonmot dieses Landes und der Nichtweißen, das auf Safaris und in Lodges gern den Gästen aus Europa erzählt wird, und das ich vom Mitinitiator unserer Gruppe, Horst Baranski, wiederholt hörte, lautet: „Ihr habt die Uhr, wir haben die Zeit!“ Im gerade diskutierten Zusammenhang, erhält dieses Bonmot jedoch einen ganz eigenen Klang, denn es ist auch diese Zeiterfahrung, die Weiße und Schwarze trennt. Für uns Weiße gelten selbstverständlich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit getakteten Einteilungen und vorausschauenden Planungen. Für die Farbigen und Schwarzen gilt nur die Gegenwart. Das Gestern ist vergessen, man hat es überlebt. Das Morgen bleibt höchst ungewiss. Und das Heute will überhaupt erst bestanden sein.
Diese so unterschiedlichen Lektüren geben faszinierende Einblicke in völlig verschiedene Kulturen, die nichts miteinander gemein haben. In einem einzigen Punkt geben sich die Erzählungen Dieterichs und Noahs, unabhängig voneinander, die Hand. Trevor Noahs Buchtitel Farbenblind findet seine präzise Erklärung ausgerechnet in Johannes Dieterichs Arbeit: „Südafrikas gutbetuchte Bleichgesichter sind nicht die Ersten, die ihren als mangelhaft empfundenen politischen Einfluss durch persönliches Engagement zu stärken suchen – auch wenn ihre Bemühungen, ihre Kaufkraft in die Waagschale zu werfen und staatliche Dienste durch private zu ersetzen, tatsächlich einzigartig sind. Jahrzehntelang hatte auch die entrechtete schwarze Zivilgesellschaft gegen das Apartheidregime gekämpft. Allerdings nicht, um dessen rassistische Institutionen durch private zu ersetzen, sondern um sie in ‚farbenblinde‘ demokratische zu verwandeln.“ (S. 164)
Kleine Ergebnisse und bescheidene Erkenntnisse. Eine Bilanz.
Fasse ich an dieser Stelle einmal zusammen, so wirken Nelson Mandelas hoffnungsvolle Worte, eingraviert in eine Messingtafel auf dem Trottoir in Stellenbosch, (siehe Seite 6) heute wie der zwar aufrichtig gemeinte, jedoch viel zu optimistische Wunsch eines geradlinigen Idealisten aus dem Stamm der Xhosa, auch eines schwierigen Menschen mit Ecken und Kanten, aber mit großer Ausstrahlung, wie Richard Stengel in seiner sehr lesenswerten, mit kritischer Sympathie geschriebenen Biographie über Mandela zu berichten weiß. Jener träumte von einer „Regenbogennation“, in der alle Rassen und Völker Südafrikas friedlich zusammenleben und das Land gemeinsam gestalten. Nachdenklich und besonnen, verantwortlich und klug, was sich von den anderen Stämmen und seinen Vertretern nicht sagen lässt, am wenigsten von seinen direkten Nachfolgern im Amt.
Jenseits aller politischen Ereignisse und Wahrnehmungen spielen nach meinem historischen Verständnis noch ganz andere Aspekte eine zentrale Rolle. Sie nehmen sich im Zusammenhang mit Trevor Noahs wuchtig Erlebtem und unverblümt Dargestelltem und mit Johannes Dieterichs außerordentlich kenntnisreichem Buch, gewonnen aus Selbsterlebtem in über zwanzig Jahren, zwar recht bescheiden aus, dennoch möchte ich sie in gebotener Kürze wenigstens erwähnen.
Die folkloristisch bunte Diversität, die zwar vordergründig hübsch anzuschauen ist, trägt meiner Überzeugung nach weder zu einem integrativen kulturellen Bewusstsein bei, noch hält sie als belastungsfähiges zivilisatorisches Band die unterschiedlichen Elemente im Land zusammen. Das wiederum braucht nicht zu verwundern. Der strenge Calvinismus mit seinem hartleibig engstirnigen Moralkodex der niederländischen Buren seit ca. 400 Jahren und die daraus resultierenden Lebens- und Sozialformen hätten in ihrer Rigorismus schon nicht mehr in die niederländischen Provinzen des 17. Jahrhunderts in Europa gepasst, dann erst recht nicht in alte und bis in die Gegenwart hineinragende schwarzafrikanische Strukturen, Gebräuche und Gewohnheiten. Denn seinen „Besitz zur Schau zu stellen, war in der calvinistisch geprägten Kolonie keineswegs verwerflich. Wer Gott wohlgefällig ist, hatten die holländischen und hugenottischen Siedler von ihrem Reformator Johannes Calvin gelernt, wird mit irdischem Wohlstand belohnt und darf das auch zeigen. Die Verehrung des Reichtums führt in Südafrika so tief wie die Goldminen des Landes.“ (Dieterich, S. 102 f.) Hier zahlt sich Dieterichs theologische Ausbildung aus, nicht als spezifisches Wissen über binnen-religiöse Fragen, sondern als Kenntnis sozialpsychologischer kultureller Fernwirkungen. Doch die Lehre des Reformators hat eine zweite Seite, die nicht erwähnt ist, was aber die Sache selbst eher noch verschärft. Sie besagt: Wer seinen Reichtum und Aufstieg, seine Stellung und sein Ansehen dem Land und der Gesellschaft verdankt, in der er ausgebildet und groß geworden ist, hat die Verpflichtung, davon wieder etwas zurückzugeben. Aber genau das geschah und geschieht nicht. Das ist das eigentlich Verwerfliche, der eigentliche Skandal.
Die angelsächsische Zivilisation mit dem kulturellen Überlegenheitsgefühl des Kolonialreichs Großbritannien seit 200 Jahren, vor allem nach den alles verheerenden Siegen in den jahrelangen Kriegen gegen die Burenrepubliken, die sich nach Staatsverständnis und politischem Sendungsbewusstsein wiederum deutlich von den eben Besiegten abhob und diese als Bürger zweiter Klasse betrachtete, passte genauso wenig ans Kap wie jedes andere europäische Volk, obwohl sie, anders als die Buren, ein gewisses humanes Verständnis für die Belange der schwarzem Bevölkerung aufbrachte.
Besonders einprägsam bringt die Differenzen der einstigen Kolonialmächte, Schwarze im südafrikanischen Bildungssystem zu zivilisieren, wiederum Trevor Noah auf den Punkt:
„Der Unterschied zwischen dem Rassismus der Briten und dem der Afrikaaner <Buren> bestand darin, dass die Briten den Eingeborenen wenigstens etwas gaben, wonach sie streben konnten. Wenn sie korrektes Englisch lernten und sich anständig kleideten, wenn sie sich anglisierten und zivilisierten, wurden sie eines Tages möglicherweise in die Gesellschaft aufgenommen. Die Afrikaaner boten uns nie diese Option. Der britische Rassismus folgte der Regel: ‚Wenn der Affe wie ein Mensch gehen und reden kann, ist er vielleicht auch ein Mensch‘. Der Rassismus der Afrikaaner besagte: ‚Warum sollte man einem Affen ein Buch geben?‘“ (S. 80)
Beide europäisch geprägten Zivilisationen, die bereits unterschiedlicher nicht sein können, werden nun gänzlich perforiert von den lokalen Gepflogenheiten südafrikanischer Stämme aus den weiten ländlichen Regionen wie der Ndebele, Pedi, Sotho, Swasi, Tsonga, Tswana, Venda, Xhosa, und Zulu, jede wiederum mit eigener Sprache und Kultur. So summieren sich allein im Staat Südafrika neben Englisch und Afrikaans mindestens noch neun nominell gleichberechtigte Landessprachen auf.
Diese an sich wünschenswerte kulturelle Diversität ist letztlich aber viel zu heterogen und reicht eben nicht aus für eine sinnstiftende gemeinsame Identität des Landes, selbst dann nicht, wenn sich diese Unterschiede im Lauf der Zeit etwas einebnen sollten. Das Land hat deshalb gegenwärtig etwas kulissenhaft Theatralisches, durchaus gekonnt Inszeniertes an sich, das sich kaum mehr an seine Ursprünge zu erinnern vermag, für immer abgeschnitten von seinen einst zwar nie harmonischen, oft kriegerisch gewalttätigen, aber stets lebendigen Traditionen. Die Folgen scheinen mir darum so gravierend, weil sich bis heute kein wirklicher südafrikanischer Bürgersinn entwickelt in offener Diskussion und der Herstellung einer bürgerlichen Öffentlichkeit. Kunst im Besonderen ist nicht Teil solch einer wenigstens angestrebten gemeinsamen Öffentlichkeit; deshalb wirken die Kulturen des Landes isoliert voneinander, mindestens aber aufgesetzt. Zwei Beispiele, die ich im Artikel von Jakob Strobel y Serra entdeckte: Jetzt, im kommenden September soll in der Waterfront in einem alten Getreidespeicher das Zeitz Museum of Contemporary Art Africa eröffnet werden, das bedeutendste seiner Art auf dem Kontinent. Diese Stiftung ist eine Wohltat des deutschen Afrika-Liebhabers Jochen Zeitz, dem früheren Chef des Sportartikel-Herstellers Puma. Und Paul Harris, ein pekuniär schwergewichtiger Bankier, Kunstfreund und einer der reichsten Männer ganz Afrikas, stellt seine Privatsammlung aus Skulpturen und Gemälden einem erlauchten Kreis im Ellerman’s House, seinem Luxushotel in Bantry Bay, vor. Ein großartiger Kunstgenuss mit fantastischem Ausblick auf Kapstadt und den Atlantik. Der Eintrittspreis soll einige hundert Euro betragen. – Was ich damit sagen will? Es sind keine Aufrufe zu einem gemeinsamen Bürgersinn, sondern eher die eigenwillig selbstbezogenen Wohltaten steinreicher, kunstsinniger Liebhaber in abgeschirmten Räumen, ohne eine irgendwie geartete Öffentlichkeit herzustellen.
Neben dem fehlenden Bürgersinn als gemeinsames kulturelles Band kommt noch etwas untergründig Subtiles hinzu. Nämlich, dass selbst die offizielle Landessprache Englisch, neben Afrikaans, auch dann, wenn man ihrer mächtig ist, eine schier unüberwindliche Barriere für ein tieferes Verständnis des Landes ist. Das bestätigt erneut die fiktionale Literatur. Wie ein feines Sensorium zusätzlicher Erkenntnis legt sich auch hier die Lektüre des Romans Schande über meine bescheidenen Bemühungen. David Lurie charakterisiert den schwarzen Landarbeiter Petrus und findet Nachdenkliches zur amtlichen Landessprache Englisch im Staat Südafrika: „Er <David> hätte nichts dagegen, sich eines Tages Petrus‘ Geschichte anzuhören. Aber lieber nicht aufs Englische reduziert. Er ist immer mehr davon überzeugt, daß Englisch ein ungeeignetes Medium für die Wahrheit Südafrikas ist. Teile des Codes der englischen Sprache, ganze Sätze, haben sich verdunkelt, haben ihre gedankliche Abstraktion verloren, ihre Verständlichkeit, ihre Klarheit. Wie ein Dinosaurier, der den Geist aufgibt und im Schlamm versinkt, ist die Sprache erstarrt. In die Form des Englischen gepreßt, würde Petrus‘ Geschichte arthritisch wirken, längst vergangen.“ (S.145)
Was also im Titel meiner Geschichte noch selbstgenügsam, witzig salopp und locker flockig klingen mag, wird in der Diktion des bekannten Literaten, der seinem Erzähler die Worte in den Mund der Hauptfigur David Lurie legen lässt, zum sehr nachdenklichen Ernst, der den eigentlichen Zivilisationsbruch markiert. Jetzt also erst, und fast am Ende, erschließt sich das Thema meines Berichtes, warum ich der selbst erlebten Faszination Südafrikas nicht vollständig erlegen bin, auch wenn ich der anfangs irrigen Auffassung reichlich ahnungslos folgte, dass dies allein mangelhafter englischer Sprachkenntnis geschuldet sei.
Um hier aber nicht missverstanden zu werden, sei eigens und wiederholt betont: Das Kapitel „Jenseits von Eden“ hat vordergründig nur sehr wenig mit der Reise selbst zu tun, die lehrreich und neu für mich war, in guter Atmosphäre und bester Stimmung verlief und überwältigende Blicke in ein farbenprächtiges, wunderschönes Land freigab, in ein Land, das für immer in meinem Gedächtnis haften bleiben wird. In ein Land, in dem sich die Natur „wie ein Meer des Lebens über die Erde ergießt“ (Heinrich Heine in der Harzreise von 1826 über den Frühlingsbeginn hierzulande), stets überschüssig abwechslungsreich bleibt, das Klima mild ist und die Menschen in verschiedenen sozialen Funktionen uns Gästen aufgeschlossen und freundlich begegnen.
Dem eilig Durchreisenden, gern Flanierenden, flüchtig Wahrnehmenden, hin und wieder auch neugierig Hinsehenden und gelegentlich Nachdenklichen, müssen zwangsläufig jene Tiefenstrukturen verborgen bleiben, denen ich hier wenigstens im Ansatz nachgehen wollte.
Darüber hinaus wird mir auf allen meinen Reisen, die ja keineswegs bloßer Selbstzweck sind, konturenscharf klar, dass ich mentalitätsgeschichtlich und kulturell ein faszinierter, ganz und gar überzeugter Europäer bin, der hier verwurzelt bleibt, zwar stets gern unterwegs ist, um zu vergleichen und Unterschiede zu beobachten, ohne unmittelbar zu werten oder gar abzuwerten.
In diesem Sinne sah ich mich jüngst von gänzlich unerwarteter Seite wenigstens indirekt bestätigt, als mich am Ende meiner Südamerika-Reise im März 2017, also genau ein Jahr danach, während des Ausflugs in eine Kaffeeplantage Costa Ricas kurz vor dem Abflug von San José nach Madrid, während des Mittagessens ein offensichtlich gebildetes, weltläufiges Ehepaar unvermittelt ansprach. Nach dem Austausch von Höflichkeiten erwähnte ich kurz meine Südafrika-Reise ein Jahr zuvor. Die Frau horchte auf, und beide erzählten im Gleichschritt ihrer Gedanken, dass sie nach sieben Jahren in Kapstadt wieder nach Deutschland zurückgekehrt seien. Natürlich wurde ich neugierig und fragte nach den Gründen. Die Reaktion beider war verblüffend schmallippig, wortkarg und ausweichend. Ihrer Mimik war jedoch unschwer zu entnehmen, dass ihre in dieser Zeit gesammelten Erfahrungen ausreichten, um diesem großen schönen Land wieder den Rücken zu kehren und erneut in Deutschland Fuß zu fassen. Schließlich gaben sie an, sie seien auf Dauer denn doch zu weit weg von Kindern und Enkelkindern. Für ein vertiefendes Gespräch fehlte dann allerdings die Zeit.
Etwas abgespannt, aber alles in allem leidlich zufrieden, bin ich jetzt am Ende dieses schier unerschöpflichen Reisethemas angelangt. Dabei verfolgte ich, streng genommen, nur ein einziges bescheidenes Ziel. Ich wollte mit meinen kleinen Aufzeichnungen, spärlichen Notizen, sporadischen Beobachtungen und längeren Überlegungen unbedingt jene Klippe umschiffen, die mich in die Nähe des Mahlstroms von Immanuel Kants maliziösem Verdikt hätte bringen können, der vor über zweihundert Jahren notiert hatte, dass jede Erkenntnis, gewonnen aus der reinen Anschauung, lediglich die unterste Stufe der Intelligenz abbilde.
Friedhelm Auhuber Geschrieben von Mitte April bis 28. August 2017
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